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DIE DICHT
DES
CHEMIKERS JACOB BERZELIUS.
DIE GICHT
DES
CHEMIKERS JACOB BERZELIUS
UND
ANDERER HERVORRAGENDER MÄNNER
VON
DR. WILHELM EIBSTEIN
GEHEIMER MEDIZINALRAT, O. Ö. PROFESSOR DER MEDIZIN UND DIREKTOR
DER MEDIZINISCHEN KLINIK UND POLIKLINIK IN GÖTTINGEN.
MIT EINER ABBILDUNG.
STUTTGART.
VERLAG VON FERDINAND ENKE.
1904.
ROYAL COLLEGE OF PHYSICIANS |
LIBRARY
CLASS
ACCN.
Ui-'oox ß \
SOURCE
DATE
Druck der Hoffmannschen Buchdruckerei in Stuttgart.
Vorwort.
Die nachfolgenden Blätter bringen Mitteilungen über die
Gicht einiger hervorragender Männer. Die Gicht des Chemikers
Berzelius nimmt den breitesten Raum ein, weil darüber nicht
nur die reichlichsten, von sachkundigster Seite stammenden
Quellen vorliegen, sondern weil auch die Rückenmarkserkrankung,
welcher dieser grosse Naturforscher schliesslich erlag, und einige
andere Punkte von grossem medizinischem Interesse sind. Ausser-
dem ist aber auch u. a. auf die Gicht von P. P. Rubens, von
Kästner, von Ti eck, von Goethe und von Friedrich dem
Grossen näher eingegangen worden. Der Verfasser kann nicht
umhin, sein Bedauern schon an dieser Stelle darüber auszu-
drücken, dass eine grosse Reihe von Lebensbeschreibungen
grosser Männer auf deren körperliche Zustände so wenig Rück-
sicht nimmt. Ich lese z. B., um hier zunächst nur ein Beispiel
anzuführen, in einer vielgelesenen Goethebiographie : „Mit Schön-
heit, Kraft und Gesundheit reich ausgestattet.“ Der Leser dieser
Blätter wird Gelegenheit haben, sich davon zu überzeugen, dass
es in letzterer Beziehung doch etwas anders mit Goethe bestellt
war. Für die Beurteilung grosser Männer sind derartige Dinge
keineswegs gleichgültig. Gerade die Gicht gehört zu den Krank-
heitszuständen, welche den betreffenden Individuen einen eigen-
artigen Stempel aufdrücken und zu ihrem Nachteil von nicht
Sachkundigen gedeutet und als Charakterfehler aufgefasst werden.
Göttingen, 31. Mai 1904.
Wilhelm Ebstein.
Inhaltsangabe.
Seite
I. Berzelius Gicht 1 — 48
1. Einleitung 1 — 4
2. Die Krankengeschichte von Jacob Berzelius 5 — 33
3. Zusammenfassende Uebersicht und Bemerkungen 33 — 48
II. Einige Bemerkungen über die Gicht verschiedener anderer hervor-
ragender Persönlichkeiten 48 — 63
Literaturverzeichnis 64
I. J. Berzelius’ Gicht.
1. Einleitung.
Dass die Gicht schon vor Jahrhunderten betreffs ihres Vor-
kommens in Schweden die Aufmerksamkeit der dortigen ge-
lehrten Kreise auf sich gezogen hat, ist eine wohlbekannte Tat-
sache. Bereits im Jahre 1762 hatte die Königliche Akademie
der Wissenschaften in Stockholm einen Preis für die Beant-
wortung der Frage ausgesetzt, woher es käme, dass die Gicht in
den späteren Jahren in Schweden allgemeiner als zuvor sei, und
welche Mittel zur Verwahrung gegen dieselbe und zu ihrer Heilung
am zuverlässigsten wären. Ich selbst habe früher das Schicksal
dieser Preisaufgabe und besonders auch die mit dem Preise ge-
krönte Arbeit von Bergius in einer kleinen Studie im „Janus“
(1900, S. 87) : „Ueber die Häufigkeit der Gicht in Schweden in
der Mitte des 18. Jahrhunderts“ zum Ausgangspunkte der Be-
sprechung der einschlägigen Verhältnisse gemacht und will hier
darauf nicht nochmals zurückkommen. Jedenfalls geht aus der
Arbeit von Bergius soviel hervor, dass in der angegebenen Zeit
die Gicht in Schweden kein sehr seltener Gast gewesen sein dürfte.
Auch berühmte ^ Männer sind hier wie anderwärts von der Gicht
nicht verschont geblieben. Interessant ist die in diese Zeit
fallende Erkrankung des berühmten Naturforschers Karl von
Linne (geb. 1707, gest. 1778), von welchem Fr. Wohl er be-
richtet, dass er, an langjähriger Gicht leidend, sich durch eine
Ebstein, Die Gicht des Jacob Berzelius. 1
2
Erdbeerenkur davon befreit habe1). Ausführlichere Mitteilungen
darüber finde ich in dem Artikel,, „Fraisier“ von Ern es t
Labbee in Dechambres Diction. encyclop. des Sciences medic.
(Paris 1879, S. 215). Hier wird ausgeführt, dass Linne, welcher
bereits seit einigen Jahren an der Gicht gelitten hatte, Ende
Juni 1750 von einer ungewöhnlich heftigen Gichtattacke befallen
wurde. Er litt dabei sehr, hatte Schlaf und Appetit verloren
und fühlte seine Kräfte schwinden. Da entschloss er sich eines
Tages von einem Teller Erdbeeren zu kosten, welche man ihm
brachte. Er ass viel davon, sie mundeten ihm und zu seinem
grossen Erstaunen konnte er danach schlafen. Er ass nun all-
täglich einen Teller Erdbeeren und er befand sich danach so
wohl, dass er nach einiger Zeit aufstehen und gehen konnte.
Der Gichtanfall hörte bald auf und Linnes Allgemeinzustand
wurde gut. In den vier folgenden Jahren kehrten die Gicht-
anfälle zwar wieder, aber weniger stark. Immer erwies sich die
dagegen unternommene Behandlung mit Erdbeeren hilfreich. In
den nächstfolgenden fünf Jahren brauchte Linne die Erdbeeren-
behandlung als Prophylaktikum und blieb von Gichtanfällen ver-
schont. Obgleich Linne selbst ein lebhafter Lobredner dieser
Behandlung der Gicht wurde, hat Labbe doch nur eine zugunsten
dieser Methode sprechende, von Sauquet (Journ. de Chim. med.
1840) zitierte Beobachtung gefunden.
In der in meinem Artikel: „Carl von Linne als Arzt“
(Janus, März 1903) angegebenen Linne-Literatur vermisse ich
die Angabe, dass Linne an der Gicht gelitten habe. In der
Biographie Linnes von Chereau im Dictionn. encyclop. des
Sciences medic. von Dechambre (Paris 1869, pag. 621) wird
angegeben, dass Linnes Gesundheit im Jahre 1772 geschwächt
gewesen sei, und dass er die letzten Jahre seines Lebens in Zu-
rückgezogenheit auf seinem Landgut gelebt habe. Im Jahre
*) Vgl. Wohl er, Versuche über den Uebergang von Materialien in den
Harn. Fr. Tiedemann, Zeitschr. f. Physiologie, 1. Bd. , Heft 1, 1824,
S. 816. Hier heisst es: „Es war auch die sogen. Kirschenkur von jeher be-
rühmt, besonders bei Gichtischen, und Linne hat sich bekanntlich durch eine
Erdbeerenkur von seiner lange dauernden Gicht befreit“.
3
1776 sei er nur noch ein Schatten im Vergleich mit früherer
Zeit gewesen, seine glänzenden Eigenschaften waren durch zwei
Anfälle von halbseitiger Lähmung gebrochen. 1878 starb Lin ne.
Derselbe hat sich nicht nur über die Aetiologie der Gicht,
sondern auch über deren Behandlung geäussert. In ersterer
Beziehung führt Linne aus, dass stillsitzende Personen oft an
Säurebildung in den ersten Wegen leiden, wodurch Gärung der
genossenen Speisen veranlasst werde, die Säure zerfresse die
festen Teile, kristallisiere leicht und bilde „in viscido concretiones
tartareas“, welche späterhin zu habitueller Obstruktion, Hypo-
chondrie, Gicht und manchen anderen Leiden den Grund legen.
Als das beste Mittel dagegen rät Linne Bewegung bis zum
Schweiss (s. Hjelt, Linne als Arzt u. s. w. Leipzig 1882, S. 97).
Als Hauptmittel gegen die Gicht, desgleichen gegen den Skor-
but, die Gelbsucht und Rheumatismus preist Linne Solanum
Dulcamara, ohne dabei zu verhehlen, dass dieses Mittel den
Uebelstand habe, dass es namentlich anfangs den Magen
graviere und Ekel errege, etwas laxiere und den Appetit ein
wenig benehme, dass es aber mit Milch genommen weniger
graviere (s. Hjelt, 1. c., S. 85).
Aus weiter zurückliegender Zeit möge hier endlich noch
an die Geschichte der gichtischen Erkrankung von Torsten-
son erinnert werden (vgl. Fr. Hoffman n, Lehrbuch der Ge-
schichte, 4. Heft, 3. Aufl. , S. 63). Der Feldherr Torstenson
(geb. 1603, gest. 1651), der talentvollste aus des grossen Schweden-
königs Gustav Adolfs Schule, musste sich, — wie erzählt wird —
infolge seiner Gicht gelähmt, in einer Sänfte tragen lassen und
setzte dennoch die Welt durch die Schnelligkeit seiner Feldzüge
in Erstaunen. Freilich bleibt es in diesem und in manchem
anderen uns überlieferten Falle von Gicht — und ich werde
später darauf zurückzukommen haben — zweifelhaft, ob es sich
bei den betroffenen Individuen wirklich bei ihrer Krankheit um
die wahre Gicht, d. h. die Arthritis uratica, gehandelt hat.
In die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts fällt die gichti-
sche Erkrankung des grossen Chemikers Joh. Jacob Berzelius
in Stockholm (geb. 1779, gest. 1848), nicht nur einer der hervor-
4
ragendsten Zierden in der schwedischen Gelehrtenwelt, sondern
einer der grössten Naturforscher in seinem Sonderfache. In
jüngster Zeit ist die interessante Krankheit von Berzelius durch
neue, vorher unzugängliche, jetzt erst erschlossene Quellen
unserem Verständnis in dankenswerter Weise eröffnet worden,
und es verlohnt sich wohl der Mühe, auf Grund derselben die
Krankheitsgeschichte von Berzelius genauer zu beleuchten. Die-
selbe ist nicht nur von Interesse wegen der Persönlichkeit, welche
sie betrifft, sondern insbesondere auch wegen der Art und Weise
des Verlaufes und des Ausganges der Krankheit.
Bereits in den früher von Fr. Wöhler mitgeteilten Fragmen-
ten über die Geschichte der Krankheit von Berzelius, welche in
der Deutschen Revue (Jahrgang III, 1879, S. 7 — 22 und S. 215
bis 229) sich abgedruckt finden, wird auch einiges über die be-
merkenswerten Zustände berichtet, welche Berzelius selbst als
seine „nervösen Gichtanfälle“ zu bezeichnen pflegte, und von
deren einem er selbst berichtet hat, dass dieser Zustand durch
die Behandlung seines Arztes Magnus Retzius1) wie durch
einen Zauber verschwunden sei.
Diese auf einem weit spärlicheren Materiale fussenden Mit-
teilungen Wöhlers über die Krankheit seines ihm nicht nur in
wissenschaftlicher, sondern auch in persönlicher und freund-
schaftlicher Beziehung so nahestehenden Fachgenossen erregten
bereits das lebhafteste Interesse nicht nur der gebildeten Welt
und besonders der Spezialkollegen des grossen Chemikers, son-
dern auch vornehmlich der ärztlichen Kreise. Diese Bruchstücke
lassen natürlich eine Vervollständigung als erforderlich erscheinen.
Eine solche ist aber erst möglich geworden, nachdem der Brief-
wechsel zwischen Berzelius und Wöhler veröffentlicht worden
ist. Zunächst soll also das einschlägige literarische Material in
chronologischer Reihenfolge dem Wortlaut nach angeführt und,
so weit es für das Verständnis notwendig oder wünschenswert
erscheint, durch verbindenden Text ergänzt und erläutert werden.
b M. C. Retzius, geb. 1795, gest. 1871, ein Bruder des Anatomen,
sowie des Professors an der Veterinärschule in Stockholm, war ein bekannter
praktischer Arzt in Stockholm.
5
2. Die Krankengeschichte von Jacob Berzelius.
Betreffs des Gesundheitszustandes von Jacob Berzelius finden
wir in dessen biographischen Aufzeichnungen eine Reihe von
wertvollen Anhaltspunkten, bei denen nur zu beklagen ist, dass
wir über die Natur seiner „gichtartigen Anfälle“ keine genauere
Aufklärung erhalten. Berzelius schreibt : „Meine Gesundheit, die
von Jugend an, hauptsächlich infolge kleiner gichtartiger An-
fälle, die schon in der Kindheit ihren Anfang nahmen, schwan-
kend war, hatte durch beharrliches Arbeiten bei mangelnder Be-
wegung in freier Luft, wozu ich während eines grossen Teils
des Jahres niemals Zeit fand, sich allmählich verschlechtert.
Schon mit 23 Jahren war ich von periodischen Kopfschmerzen,
gewöhnlich Migräne genannt, geplagt, die anfangs in längeren
Zwischenräumen, aber bald zweimal im Monat sich einsteilten,
und zwar mit der grössten Regelmässigkeit an dem Tage, an
dem Neumond oder Vollmond eintrat; sie währten von 8 Uhr
morgens bis 8 Uhr abends *).
Im Frühjahr 1818 kam noch eine andere Art von Krank-
heit hinzu. Ich geriet in einen Zustand von Gleichgültigkeit
gegen alles, bekam einen stark intermittierenden Puls, wurde
völlig unfähig mich zu beschäftigen und hatte einen Ekel vor
*) „Diese wunderbare Regelmässigkeit, deren Zusammenhang mit der
Stellung des Mondes ich anfangs nicht wahrnahm, dauerte 14 Jahre. Während
meines Aufenthaltes in Paris, im Winter 1818—19, kam ich darauf dies La-
place zu erzählen, der meine Angabe bezweifelte und sagte, dass Olbers, ein
ebenso grosser Arzt als Astronom, neulich in einer Abhandlung bewiesen habe,
dass der Mond keinen merklichen Einfluss auf die Krankheiten ausübe. Bei
meinem nächsten Migräneanfall, als ich in einem dunklen Zimmer auf völlige
Ruhe gehofft hatte, wurde ich durch eine Mittagseinladung von Laplace un-
liebsam gestört ; natürlicherweise konnte ich sie nicht annehmen. Als wir uns
ein paar Tage später trafen, erzählte er, dass es eine für mich gestellte Falle
gewesen sei; er hatte mir nämlich mit dem Kalender in der Hand beweisen
wollen, dass eine solche Regelmässigkeit nicht existiere, da ich hier wahr-
scheinlich nicht so sicher wie zu Hause die Tage des Mondwechsels erfahren
hätte. Ich erwiderte, seine Voraussetzung sei gewiss richtig, aber unglück-
licherweise sei ich nicht im Zweifel darüber, wann die Migräne einträte.“ So
erzählt Berzelius.
6 -
jeder Art wissenschaftlicher Arbeit. Dieser Zustand wollte den
verschriebenen und angewandten Arzneimitteln und Verhaltungs-
massregeln nicht weichen.
Man riet mir, als einziges Mittel, diesen Zustand von Nerven-
schwäche zu überwinden, eine längere Reise zu unternehmen.“
Ich erachte es nun als das Zweckmässigste, besonders an
der Hand der weiteren schriftlichen Aeusserungen von Berze-
lius, welche vornehmlich in seinen Briefen niedergelegt sind,
eine genauere Krankengeschichte dieses grossen Gelehrten zu-
sammenzustellen. Wir erfahren zunächst aus dem Briefe Ber-
zelius an Wö liier vom 18. Juli 1825, Bd. I (S. 58 2), dass
Berzelius
„einen Teil des Sommers auf dem Lande sein muss, um in seinen gichtischen
Knien und Füssen nicht ganz steif zu werden“.
Diese chronischen Beschwerden in den genannten Gelenken
steigerten sich während dieses Landaufenthalts augenscheinlich
zu einem akuten Gichtparoxysmus. Berzelius schreibt am
12. September 1826 (1. c. Bd. I, S. 136):
„ . . . Ich bekam dort einen Anfall von Gicht in einem Knie, der mich
ein paar Tage länger, als ich mir vorgenommen hatte, dort zurückhielt.“
Man ersieht ferner, dass Berzelius in den nächsten Jahren
in der mannigfachsten Weise durch seine Krankheit gehindert
wurde, und zwar nicht nur in seinen wissenschaftlichen Arbeiten,
sondern auch in seinen Reisen, welche er früher als das be-
währteste Mittel gegen seine Nervenschwäche angesehen hatte.
Berzelius schreibt am 10. Mai 1827 (S. 183):
„Ich bin 14 Tage lang krank gewesen, wobei ich zwar nicht zu Bett
gelegen habe, aber doch nicht im geringsten fähig war zu arbeiten.“
b Die wesentlichste Quelle für die Erforschung der Krankheit von Ber-
zelius bildet sein auch in anderer Beziehung sehr interessanter Briefwechsel
mit Fr. Wühler (s. d. Literaturverzeichnis am Schluss. Hier sind auch die
anderen Quellen angeführt). Fräulein Emilie Wühler, die treue und kun-
dige Hüterin des literarischen Nachlasses ihres unvergesslichen Vaters, hat
die Güte gehabt, aus demselben das einschlägige Material zusammenzustellen
und eine Keihe weiterer Nachrichten von Berzelius’ Freunden in Schweden
mir zu verschaffen. Hierfür sage ich Fräulein Emilie Wühler an dieser
Stelle meinen wärmsten und verbindlichsten Dank.
Berzelius schreibt sodann ferner (1. c. Bd. I, S. 184):
„ . . . und der, der leichter beweglich ist, welches ich leider Gottes nicht
bin, kann leicht eine kleine Ueberfahrt zwischen Stralsund und Ystad machen.“
Dieser Circulus vitiosus wiederholt sich in dem Leben von
Berzelius immer wieder. Hierfür seien die folgenden Beleg-
stellen angeführt, zunächst der Brief vom 8. Juni 1827 (1. c.
Bd. I, S. 187) :
„Ich bin in diesem Frühjahr nicht nur von Gicht, sondern von Melan-
cholie oder Hypochondrie gequält worden, was bewirkt, dass ich jetzt nicht
mehr mit Vergnügen arbeite.“
Ferner der Brief vom 12. Mai 1829 (1. c. S. 255):
„ . . . weil ich in der letzten Woche von Gicht auf dem Sofa festge-
halten wurde und deshalb alle Versuche deskontinuieren musste“,
sowie der Brief vom 10. Juli 1829 (1. c. S. 267):
„Ich habe eine Zeit lang viel an Gicht gelitten und war mehrere Tage
vom Podagra auf dem Sofa festgehalten.“
Jedenfalls trat auch weiterhin keine längere Zeit anhaltende
Besserung in dem Zustande von Berzelius ein. Er berichtet am
19. Januar 1830 (1. c. S. 285):
„Meine Gesundheit ist in diesem Winter derart schwankend gewesen,
dass ich entweder Diarrhöe oder steife Knie gehabt habe.“
10. April 1832 (S. 418):
„Ich werde aber auch schneller beim Arbeiten müde als sonst und mit
der Ermüdung tritt Mangel an Arbeitslust ein.“
Eine interessante Episode in dem etwas einförmigen Krank-
heitsbilde von Berzelius bilden die eigentümlichen Symptome,
welche er an sich selbst, während seiner Arbeiten mit dem
Tellur beobachtete und welche er mit denen vergleicht, welche
bei der Vergiftung mit Quecksilber auftreten. In einem an
Wühler gerichteten Brief vom 2. März 1832 (1. c. S. 407)
schreibt Berzelius folgendes:
n • • • Während meiner Arbeiten mit dem Tellur ist mir etwas sehr
Sonderbares passiert; es sind nämlich die Speicheldrüsen in eine eigen-
tümliche Wirksamkeit getreten, etwa ähnlich, aber bedeutend geringer wie
beim Arbeiten mit Quecksilber, wobei der Atem so sehr nach Phosphorwasser-
stoffgas riecht, dass ich zuweilen andere geniere. Dieses fing wTenige Tage
nach dem Beginn der Versuche an und dauert noch fort. Ob das Tellur wirk-
8
lieh die Ursache ist, kann ich nicht mit Sicherheit sagen, ich erinnere mich
aber sehr gut, dass man sich, als ich früher mit diesem Körper arbeitete,
über den Geruch meines Atems beklagte. Eine Tatsache, die mir doch als
ein Einwand gegen das Tellur erscheint, ist, dass ich während der ganzen Zeit
in den Füssen und Knien gar keine Gicht mehr gehabt habe, dagegen zur
selben Zeit etwas schwerhörig auf dem rechten Ohr geworden bin, so dass es
möglicherweise ein art britisches Phänomen sein kann, woran das Tellur
unschuldig ist.“
Eine Bestätigung dieser Vermutung von Be rzelius könnte
in dem nachfolgenden Satze eines von ihm an Wöhler am
17. April 1832 (vergl. 1. c. Bd. I, S. 426) gerichteten Schreibens
gefunden werden, in welchem es heisst:
„ . . . Während ich an dem Jahresbericht arbeite, ist der Phosphor-
geruch und die Speichelabsonderung bei mir fast verschwunden, aber die
Gicht hat sich in meinem rechten Ellenbogen und im rechten kleinen Finger
festgesetzt.“
Ein vollständiges Alternieren des Speichelflusses und des
Phosphorgeruches einerseits und der gichtischen Gelenksymptome
andererseits, wie das gelegentlich zwischen den letzteren und
dem Auftreten von Glukosurie bezw. von Diabetes mellitus be-
obachtet wird, geht aus der Berzeliusschen Schilderung nicht
hervor. Dem unbefangenen Leser wird sich angesichts der von
Berzelius gemachten Bemerkung, dass der Phosphorgeruch des
Atems bei ihm fast geschwunden gewesen sei, während er an
dem Jahresbericht arbeitete, sicherlich der Gedanke auf drängen,
dass dieser Phosphorgeruch und die Beschäftigung mit Tellur
Hand in Hand gegangen sind. Es ist daher einigermassen auf-
fallend, dass Wöhler in seinem Schreiben an Berzelius vom
4. April 1832 (1. c. Bd. 1, S. 415) auch den Gedanken mit einer
bemerkenswerten Zähigkeit festhielt, dass bei Berzelius die
„gichtischen Umstände“ und nicht die Arbeiten mit dem Tellur
die Ursache des Phosphorgeruchs seines Atems gewesen sei.
Wöhler schreibt nämlich:
„Die Mitteilung über den Phosphorgeruch Ihres Atems oder Speichels
hat mich erst jetzt recht interessiert, seitdem sie mich an eine ganz ähnliche
Beobachtung erinnert, die Dr. Buch1) schon vor sehr langer Zeit an sich
J. J. C. Buch, Arzt in Frankfurt a. M. (1778 — 1851), mit welchem
Wöhler noch in seiner Schulzeit lehrreichen Umgang hatte.
9
gemacht hat. Die Geschichte schwebt mir nur noch ganz dunkel vor, aber
wenn ich mich recht erinnere , so roch sein Speichel (als er einmal krank
war?) stark nach Phosphor, und Dr. Buch soll es auch wirklich gelungen sein,
die Gegenwart von Phosphor darin nachzuweisen. Ein Aufsatz darüber muss
in Scheerers Journal stehen. Das Arbeiten mit Tellur in Ihrem Falle
möchte wohl nicht die Ursache gewesen sein, sondern, wie Sie bemerken,
ganz gewiss die gichtischen Umstände. Aber um so merkwürdiger ist die
Erscheinung in physiologisch-pathologischer Hinsicht.“ J)
Dass die Gicht zu Unrecht als die Erzeugerin des Phos-
phorgeruchs des Atems angeklagt worden war, hat Berzelius
doch wohl sehr bald eingesehen. Er schreibt am 15. Juli 1832
(1. c. Bd. I, S. 446 an Wöhler:
„Nachdem ich den Jahresbericht abgeschlossen hatte, wurde das Tellur
wieder aufgenommen. Mein Atem, der inzwischen natürlich geworden war,
nahm wieder den Geruch von phosphorgebundenem Wasserstoff an, was jetzt
während meines Aufenthaltes auf dem Lande allmählich verschwindet, aber
ich habe doch noch eine geringe Speichelabsonderung im Schlafe, nicht am Tage,
auch sie nimmt jetzt aber ab.“
Dass seine frühere Ansicht, dass der Phosphorgeruch des
Atems durch die Gicht bedingt war, irrig gewesen sei, hat Ber-
zelius freilich damit nicht eingestanden. Indes ist dies doch
zwischen den Zeilen zu lesen.
Dass Berzelius übrigens auch durchaus keinen Anstand
nahm, derartige ihm gelegentlich unterlaufende Irrtümer offen zu
bekennen, hat er bei manchen anderen Anlässen zur Genüge durch
freimütiges Bekenntnis bewiesen. Als Beispiel sei hier folgendes
angeführt. Berzelius schreibt an Wöhler am 10. Juni 1833
(1. c. Bd. I, S. 516):
1) Wir werden heutzutage nicht daran zweifeln, dass die Erscheinungen,
welche Berzelius — während er mit Tellur arbeitete — an sich beobachtete,
von ersterem und nicht durch die Gicht bedingt gewesen sind. Aus Tellur
und aus telluriger Säure machen der Tierkörper und besonders dessen drüsige
Organe Tellurmethyl , welches den knoblauchartigen Geruch des Atems , des
Schweisses, des Kotes und des Harns veranlasst, welchen man schon nach
dem Einnehmen von 0,015 Telluroxyd auf treten sieht und welcher in dem
Atem und den genannten Se- und Exkreten verschieden lange Zeit anhält.
Am längsten hält er sich im Schwreiss, nämlich ca. 19, und am kürzesten im
Kot, nämlich ca. B Tage. Phosphor hat, wie man am Oleum phosphoratum
leicht beobachten kann , einen intensiven Knoblauchgeruch. Tellur ist ein
starkes Gift. Lähmungserscheinungen beherrschen bei Warm- und Kaltblütern
das Vergiftungsbild.
10
„Während der letzten 10 — 12 Tage der Ausarbeitung bin ich von la
grippe heimgesucht worden in einer Weise, die sich vielleicht in den Zusätzen
bemerkbar macht.“
Berzelius hat sich später davon überzeugt, dass die
Beschuldigung dieses ätiologischen Moments durchaus unzu-
treffend sei und widerruft seine frühere Angabe, indem er in
einem Briefe vom 20. August 1833 (1. c. S. 524) an Wöhler
schreibt :
„ . . . Ich fing die Analyse vor der Reise an und bekam durch den
Osmiumgeruch eine sehr schwere Brustaffektion, die ich für la grippe
hielt und die mich an dem Weiterarbeiten hinderte.“
Indes begegnen wir bei Berzelius manchmal der Nei-
gung, gewisse uns heute etwas seltsam anmutende Vorstellungen
über seinen körperlichen Zustand vorzutragen und darüber eigen-
artige und doch wohl willkürliche und nicht zu beweisende Ver-
gleiche anzustellen. So berichtet er am 6. Oktober 1834
(S. 588)2):
„Ich bin, Gott sei Dank, der Cholera entgangen, obgleich ich inzwischen
mehrmals an der Gicht gelitten habe. Meine Haut ist nämlich durch die un-
erträgliche Hitze des letzten Sommers und durch ein stetes Deliquescieren in
einen solchen Zustand versetzt, dass sie jetzt wieder reproduziert werden
muss, wodurch ich in denselben Kränklichkeitszustand gekommen bin, wie die
Vögel, wenn sie mausern, oder die Pferde zu der Zeit, wo sie die Haare wech-
seln, und dieser Zustand ist bei mir noch nicht ganz vorbei, jedoch ist er jetzt
so unbedeutend, dass ich an allem, was ich tue, dadurch gar nicht gehindert
werde.“
Jedenfalls hat aber die gute Zeit des Wohlbefindens für
0 Berzelius beschäftigte sich mit der Analyse von Roses Iridium-Osmium.
Die Osmiumsäure ist ein zweifelloses Gift, sie kann schon bei der Verwendung
in der mikroskopischen Technik die zugänglichen Schleimhäute unangenehm
reizen und es ist kein Wunder, wenn Berzelius nach solchen Arbeiten eine
schwere Brustaffektion bekommen hat.
2) In der Uebersetzung von Berzelius’ biographischen Aufzeichnungen,
welche Fräulein Emilie Wöhler veranstaltete, findet sich folgende hier noch
einzufügende Stelle: Sommer 1834: „Ich erkältete mich und bekam einen
Gichtanfall ; dieser war an sich nicht langwierig , aber von einem Zustand
von Nervenschwäche begleitet. Im übrigen hatte ich kein anderes Leiden
dabei als einen Schwächezustand in den Verdauungsorganen. Lust und Kraft
für wissenschaftliche Arbeiten hörten auf. Dieser Zustand dauerte zwei
Jahre.“
11
Berzelius nicht angehalten. Er schreibt am 29. Mai 1835
(1. C. S. 611):
„Dass ich so lange nichts von mir habe hören lassen, kommt daher,
dass ich krank gewesen bin. Einige Tage vor Ostern ging ich zufällig in
einem zu dünnen Anzuge bei sehr windigem Wetter aus, wonach die Gicht,
die ich vorher in Händen und Füssen gehabt hatte, diese ganz verliess und
sich irgendwo in der Bauchkavität einquartierte. In den ersten drei Wochen
konnte ich nicht das Zimmer verlassen; dann wurde mir weit besser, so dass
ich nun ausgehen kann, bekomme aber den Appetit noch nicht zurück, werde
mager, was mir zuträglich ist, zugleich bin ich aber von einer so indifferenten
Gemütsstimmung, dass mich nichts amüsiert oder interessiert.“
Wer die Geschichte der Gicht im allgemeinen kennt, wird
mit der Möglichkeit rechnen, dass es sich auch hierbei um
gichtische Erscheinungen handelt, und wird zugeben müssen, dass
die Deutung von Berzelius zutreffend gewesen ist. Wir werden
auch mit ihm darin übereinstimmen, dass — wofern sonst kein
anderer Grund vorlag — die Abnahme seines Embonpoints nichts
Schlimmes zu bedeuten hatte. Tatsächlich ergibt sich aus den
beiden Sätzen der folgenden beiden Briefe, dass der Zustand
Berzelius’ sich zum Besseren zu wenden schien. Er schrieb
nämlich am 21. Juni 1835 (1. c. S. 615):
„Ich hoffe, dass meine letzte Jeremiade angekommen ist. Ich befinde
mich besser als damals, bin aber doch noch dummer Weise gefühlvoll.“
Mit dem „gefühlvoll“ dürfte wohl „empfindlich“ gemeint
sein. Etwa einen Monat später, 16. Juli 1835, schreibt Ber-
zelius (1. c. S. 620):
„Meine Gesundheit ist zwar auf dem Wege der Besserung, der Magen
aber doch nicht in dem Zustande, wie ich es wünschen möchte. Nerven-
verstimmungen, die mit dem Magenzustand Zusammenhängen, überfallen mich
plötzlich mitten am Tage, wobei ich sofort mürrisch und schweigsam werde.“
Dieser Brief belehrt uns in seiner zweiten Hälfte, dass Ber-
zelius’ Zustand doch noch nicht ganz zufriedenstellend war. Ins-
besondere scheint ihm ein Aufenthalt in Paris nicht sehr zugesagt
zu haben. Er schreibt von Paris, 25. Juli 1835 (1. c. S. 622):
„Ich bin durch die grosse Hitze so heruntergekommen, dass ich noch
nicht meine Wohnung habe verlassen oder jemanden sehen können.“
Insbesondere beklagt er sich auch, dass er sich viele Diät-
12
exzesse habe zuschulden kommen lassen. Berzelius sagt in einem
Briefe aus Paris vom 29. August 1835 (1. c. Bd. I, S. 624):
„Mein Aufenthalt in Paris ist diesmal nicht sehr interessant gewesen,
teils weil meine Gesundheit recht angegriffen war und auch nicht anders als
schwach sein konnte bei den unaufhörlichen Kalaser (Schmausereien), denen
ich mich unmöglich entziehen konnte.“
Ergänzend mag hier die Stelle aus einem Briefe, welchen
Berzelius an Liebig am 13. Oktober 1835(1. c. S. 109) rich-
tete, eingeschaltet werden:
„Meine Gesundheit ist während des ganzen Sommers sehr schlecht ge-
wesen. Ich war von einer wirklichen Hysterie befallen, die während meines
Aufenthalts in Bonn sich grösstenteils zerstreute, wovon ich doch noch Spuren
fühle seitdem ich wieder im eigenen Hause im Ruhestand bin. Auch der
Winter brachte leider wieder herzlich schlechte Zeiten.“
Am 3. November 1835 schreibt Berzelius an. Wühler
(1. c. S. 633):
„Meine Gesundheit ist seit meiner Rückkehr ziemlich gut geblieben;
aber bei dem vor einigen Tagen rasch eingetretenen Winter habe ich einen
gelinden Rückfall der verdammten Nervenschwäche bekommen, die ich mehr
als jedes andere Uebel fürchte.“
In den folgenden Mitteilungen, welche einem Briefe von
Berzelius vom 1. Dezember 1835 (1. c. S. 637) entnommen
sind, kommt es in sehr instruktiver Weise zum Ausdruck, in
welchen engen Wechselbeziehungen die Gichtparoxysmen zu den
nervösen Symptomen stehen. Berzelius berichtet:
„Im Laufe des Novembers habe ich von neuem einen Anfall von meiner
nervösen Gicht gehabt, der um so lästiger war, als er einer Veränderung in
meinen Lebens Verhältnissen, wozu Gesundheit und Tätigkeit erforderlich sind,
so nahe voranging. Währenddessen war meine Niedergeschlagenheit so gross,
dass ich nur mit dem äussersten Widerwillen mich zuweilen mit dem Ab-
schreiben des beifolgenden Teils des Lehrbuchs beschäftigen konnte. Mein
Arzt, Magnus Retzius sagte immer: ,Ich werde die Teufelei bis in
Deine Zehenspitzen heruntertreiben, weiter komme ich nicht
damit/ Wie er nun anfing zu pflastern, bekam ich zuerst Schmerzen in den
Knien und in den Füssen, schliesslich auch in den grossen Zehen, und was
sagst Du wohl dazu? Gerade als diese etwas mehr angegriffen wurden, ver-
schwand alles, wie durch eine Magie, auch die ganze hypochondrische Last,
die mich vorher so niederdrückte. Ich bin nun fröhlich, munter, die Arbeit
schreitet mit Leichtigkeit und mit Vergnügen fort.“
„ . . . Ich kann jetzt eine doppelte Dosis wohl gebrauchen, nachdem
13
ich während einer achtmonatlichen Kränklichkeit in der Leibesfülle so redu-
ziert worden bin. Ich erinnere mich nicht, oh ich Dir geschrieben habe, dass
ich mich sowohl bei der Hin- wie auch bei der Rückreise bei Kindt gewogen
und während der zwei Monate 18 schwedische Pfund an Gewicht abgenom-
men habe.“
Es wäre von Interesse gewesen zu erfahren, in welcher
Weise Retzius das „Pflastern“ ausgeführt habe, welches nach
Berzelius’ Auffassung die länger andauernde Besserung in
seinem Befinden zuwege gebracht hat. Es dürfte sich hier, wie
sich aus seiner Aeusserung in dem Briefe vom 15. Oktober
1844 (1. c. Bd. II, S. 500) an Wühler entnehmen lässt, doch
wohl um Senfumschläge gehandelt haben. Diese Besserung in
Berzelius’ Befinden scheint nun einen gewissen Bestand gehabt
zu haben. Er schreibt an Liebig am 12. Februar 1836
(1. c. S. 110):
„Meine Gesundheit, die von jeher sehr schlecht war und die von der
Reise nicht wesentlich gebessert wurde, hat sich nach und nach verbessert,
so dass ich, ohne vollkommen hergestellt zu sein, doch nunmehr sehr ver-
bessert bin.“
Auch der folgende Brief an Wühler klingt erfreulicher.
Berzelius schreibt ihm am 29. April 1836 (1. c. Bd. I, S. 655):
„Meine Gesundheit bleibt, Gott sei Dank, leidlich gut. Die Nerven-
schwäche ist ganz verschwunden -und ich arbeite wieder mit Lust und Freude.“
Wie lange diese Besserung angehalten hat, ist freilich nicht
zu ersehen; man kann nicht entscheiden, ob Berzelius die in
dem Briefe vom 1. Juli 1836 (1. c. S. 657) geschilderte Kur
mehr in kurativer oder in prophylaktischer Beziehung unter-
nommen hat. Lassen wir Berzelius selbst reden. Er schreibt :
„Seit drei Wochen bin ich auf dem Lande und mache eine Brunnenkur
mit Porlawasser1) durch, welches ich auf Flaschen kommen liess. Sie
x) Die Porlaquelle (s. Berzelius’ selbstbiographische Aufzeichnungen
S. 41) liegt einige Meilen von dem in der Umgebung der Stadt Oerebro ge-
legenen Adolfbergsbrunnen. Sie hat das eigentümliche Phänomen, dass von
ihrem Grunde beständig Luftblasen auf steigen. Von diesen aufsteigenden
Blasen war der richtige Name der Quelle Porlakälla hergeleitet. Sie ist,
wie Berzelius schreibt, jetzt die berühmteste Heilquelle Schwedens. Die
Untersuchung ergab, dass die aufsteigenden Gasblasen in dem Porlawasser
aus einer bedeutenden Menge Stickstoffgas und wenig Kohlensäure bestanden,
14
schlägt recht gut an. Ieh habe einen vorzüglichen Appetit bekommen, fange
an wieder dick zu werden und komme täglich mehr und mehr zu meinem
früheren guten Zustande zurück, der mir so lange gefehlt hat.“
Berzelius bekräftigt diese Angaben in einem weiteren
Briefe vom 7. Juli 1887 (1. c. S. 690), in welchem er berichtet:
„Ich bin wie gesagt auf dem Lande und befinde mich dort sehr wohl
Ich bin dick und rund wie ein Propst und lebe sehr glücklich.“
Dass er sein Embonpoint wieder bekommen hat, hat Ber-
zelius offenbar eine sehr grosse Freude gemacht. Es wäre
ihm wohl besser gewesen , wenn er die Fettleibigkeit von sich
ferngehalten hätte. Anscheinend hat die Besserung verhältnis-
mässig lange Zeit angehalten. Jedenfalls ersehen wir aus dem
Briefe vom 12. November 1838 (1. c. Bd. II, S. 69) J), dass
Berzelius seinen Landaufenthalt lange (ob seit dem Juni
1837?) ausgedehnt hat. Berzelius schreibt:
„Erst in den letzten Tagen des Oktobers bin ich wieder in die Stadt
gezogen und habe nach der Rückkehr während der regnerischen, halbwarmen
Jahreszeit mehrfach Gichtschmerzen gehabt; aber nun bin ich wieder wohl
auf, nachdem der Regen auf gehört und klares Wetter angefangen hat.“
Der Leser ersieht bereits aus diesem Briefe, dass die alte
Krankheit von Berzelius wohl zeitweise schlummerte, aber
nicht geheilt war. Aus dem folgenden, vom 1. Februar 1839
(1. c. S. 87) datierten Briefe ersieht man dies in noch weit er-
höhterem Masse. Berzelius berichtet darüber folgendes:
„ . . . Ich war damals noch ein schwacher Rekonvaleszent nach einer
recht schweren Krankheit. Ich erkrankte am 7. Januar auf einmal so heftig,
überdies enthielt sowohl das Wasser des Adolf bergsbrunnen und der Porla-
quelle kohlensaures Kali und kohlensaures Manganoxydul. Berzelius schreibt
an Wöhler (1. c. Bd. I, S. 453), dass er in dem Wasser der Heilquelle von
Porla eine stickhaltige organische Säure bedeutender Menge gefunden habe,
welche Eisen unter Wasserstoffgasentwicklung löst, die Kohlensäure aus den
Alkalien heraustreibt u. s. wT. Dieselbe Säure fand er auch im Ocker aus eisen-
haltigen Mineralwässern. Wenn er mit schwefelgebundenem Wasserstoff zer-
setzt wird, bekommt man Schwefelsäure und ein braunes Eisenoxydulsalz
bleibt in der Flüssigkeit aufgelöst. Berzelius hält es für möglich, dass der
Eisengehalt des Wassers durch diese Säure in Lösung gehalten wird.
]) Die nachfolgenden Mitteilungen entstammen, wofern eine andere
Quelle nicht angegeben ist, dem IL Bande des Briefwechsels zwischen Ber-
zelius und Wöhler.
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nachdem ich schon seit einer Stunde aufgestanden war, ohne vorher das
geringste Unwohlsein zu verspüren, dass ich mich gleich wieder zu Bett legen
und nach dem Arzte schicken musste. Es war eine Gichtkolik von besonders
schmerzhafter Art. Am Morgen des folgenden Tages versuchte ich aufzustehen,
musste aber nach einer Stunde wieder in das Bett, wo ich dann eine höchst
peinliche Woche zubrachte. Am Abend des dritten Tages bekam ich ein
Symptom, während dessen ich leider zu krank war, um es mit aller Schärfe
beobachten zu können. Nach einem sonderbaren Unwohlsein von einigen
Augenblicken, etwa so wie es bei einem Ohnmachtsanfall vorangeht, kam
plötzlich etwas, das einem gewaltsamen elektrischen Schlage ähnlich war, aus
der Regio hepatis, wo mein Leiden bisher konzentriert war, und pflanzte sich
oberhalb dieser Seite aus dem Thorax heraus in das rechte Schulterglied fort.
Alle Muskeln des Thorax, bis deltoides auf der Schulter, wurden dann von
.einem so schmerzhaften Krampf befallen, dass ich vor Schmerz schreien
musste. Der Arzt wTar eben gegangen und meine Frau war nahe daran, den
Kopf zu verlieren, kam aber doch wieder zu sich und schickte sogleich zu
dem Arzt, der glücklicherweise zu Hause war. Der Schmerz von den Krämpfen
wurde nach einer Stunde gelinder und hörte nach zwei Stunden auf, aber
dann sass die Gicht in allen Stellen, wo die übersprungenen Muskeln auf
truncus und deltoides befestigt sind, die bei der geringsten Bewegung schmerzten.
An einigen Stellen verspüre ich sie noch, habe aber nicht sehr grosses Molest
davon. War dies nicht ein höchst sonderbarer, böser Zufall? Als ich am
achten Tage das Bett verliess, waren meine Kräfte so mitgenommen, dass ich
vom Bett zu einem Sofa, wo ich bald sass, bald lag, kaum allein gehen
konnte und erst nach 13 Tagen konnte ich, jedoch nicht ohne Schwierigkeit,
eine kleine Wendeltreppe heruntergehen , die aus einem Zimmer der oberen
Etage in meine eigenen Zimmer herunterführt. Ordentlich gesund bin ich
noch nicht, habe aber guten Appetit und schlafe gut.“
Jedenfalls ist dieser Anfall trotz der korrekten medizinischen
Schilderung von Berzelius nicht sicher zu deuten. Es ist wohl
daher anzunehmen, dass es sich hier um eine Komplikation der
Gicht mit einer Unterleibs-(Leber-)kolik gehandelt hat. Diese
Mitteilung wird ergänzt durch einen Brief, welchen Berzelius am
10. Mai 1839 (1. c. S. 186) an Liebig richtete. Hier heisst es:
„Während dieser Zeit starben noch ein paar nahe Verwandte von mir,
die ich sehr liebte, und machten dadurch meine Betrübnis noch grösser und
übten einen üblen Einfluss auf meine Gesundheit aus, die noch sehr schwankend
ist. Mein Unterleib ist in Unordnung, ich bin hypochondrisch und ohne Lust
zu arbeiten.“
Es handelte sich hier wohl um Darmstörungen.
Wie der Brief an Wohl er vom 12. Februar 1839 (1. c.
Bd. II, S. 94) ergibt, haben die Nachwehen dieses Zufalls sich
weiterhin bemerkbar gemacht, denn Berzelius schreibt:
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„Meine Gesundheit ist noch wackelig, aber ich habe wieder Kräfte be-
kommen. “
Indessen dauerte diese von Berzelius mit Freude be-
grüsste Euphorie auch nur eine kurze Zeit, wie wir aus einem
Briefe vom 20. August 1839 (1. c. S. 128) ersehen können,
denn in ihm berichtet der geplagte grosse Gelehrte:
„Nachdem ich kurz vor Johanni wegen des Gichtanfalls, den ich damals
hatte, auf das Land hinausziehen, Kreuzbrunnen trinken und Diät halten
musste, bin ich noch immer auf dem Lande und werde wahrscheinlich dort
bis Mitte Oktober bleiben Ich bin heute 60 Jahre alt geworden und
fühle dies auch an meiner Arbeitskraft.“
Ueber den in diesem Briefe angegebenen Gichtanfall hat
Berzelius auch an Liebig (1. c. S. 196) am 23. August 1839
berichtet. Hier schreibt Berzelius:
„ . . . Am 22. Juni wurde ich von einem drohenden Gichtanfall auf
dem Kopfe heimgesucht, der doch leicht und ohne Folgen gehoben wurde. Ich
musste aber auf das Land gehen und Marienbader Wasser trinken.“
Die Beschwerden des Alters stellten sich demnach früh-
zeitig bei Berzelius ein. Auch der Aufenthalt auf dem Lande
konnte nicht vorwärts bringen, da Berzelius, wie aus dem Briefe
vom 22. Dezember 1840 (1. c. S. 212) hervorgeht, dort nicht
fand, was er suchte. Berzelius klagt wieder:
„ . . . Ich halte mich in diesen Tagen meistens auf dem Sofa auf,
da ich an meinem bei der Wintersonnenwende gewöhnlichen Gichtparoxys-
mus leide.“
Nichtsdestoweniger gab Berzelius die Hoffnung nicht auf.
Er war zweifelsohne Sanguiniker. Wie immer, wenn ihm etwas
wohlgetan hatte, schrieb er in einem vom 31. August 1841
(1. c. S. 258) datierten Briefe:
„Die Badereise hat meiner Gesundheit gut getan, ich wünsche, dass die
gute Wirkung andauern möge.“
Er verlor aber sofort alle Hoffnungsfreudigkeit, sobald sich
irgendwelche gesundheitliche Störungen bei ihm einstellten, denn
in einem Briefe vom 15. Oktober 1841 (1. c. S. 264) klagt Ber-
zelius offenbar nicht ohne Bitterkeit:
„ ... er (N.) ist im 72. Lebensjahr, ich merke schon, wie man im 62.
abnimmt. . . . während unserer nächtlichen Fahrt nach Göttingen, wobei ich
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nervenkrank und er schüchtern war, konnte ich keinen rechten Begriff von
ihm bekommen.“
Berzelius knüpft an das Bewusstsein seiner nachlassenden
Leistungsfähigkeit am 22. November 1841 (1. c. Bd. II S. 267) an
seinen Freund Wühler folgende drastische, ihm sehr von Herzen
kommende Mahnung:
„Lieber Wo hl er! arbeite tüchtig solange Du noch Kräfte hast, denn
Du glaubst nicht , was der Mensch für ein Vieh wird , wenn er zu altern
anfängt.“
Wie hätte Berzelius aber nicht bitter werden sollen, an-
gesichts der Tatsache, dass nicht nur die Wintersonnenwende
ihm die Gicht brachte. In einem Briefe vom 22. Februar 1842
(1. c. Bd. II S. 284) schreibt er zornig:
„Auch ich fluche , denn bei diesem Frühlingswetter habe ich dieselben
Gichtbeschwerden, die das Frühjahr hervorruft.“
Alter und Krankheit machten Berzelius zu einem siechen
Manne. In einem Briefe vom 2. August 1842 (1. c. Bd. II S. 306)
klagt er:
„Selten in meinem Leben bin ich so erschöpft gewesen, als an dem
Tage nach dem Schluss der eigentlichen Versammlung. Ich musste einen
ganzen Tag auf dem Sofa liegen bleiben, wobei ich mehrmals mehrere Stunden
ununterbrochen schlief.“
Aber diese Leiden raubten Berzelius nicht nur nicht den
Humor, sondern wir ersehen aus seinem Briefe vom 2. August
1842 (1. c. Bd. II S. 316) an Wühler, wie lebhaft sein Interesse an
allen Fragen war, welche die Ursache und die Heilung der
Gicht betrafen. Berzelius schreibt:
„Ich wünsche sehr, von den Ursachen über den Einfluss der Benzoe-
säure auf die Bildung der Hippursäure in Kenntnis gesetzt zu werden. Du
weisst wohl, dass Bouis und Ure schon vor Dir ähnliche Versuche mit dem-
selben Resultat angestellt, und dass sie die Benzoesäure als ein Mittel em-
pfohlen haben, um den Niederschlag der Harnsäure aus dem Urin zu hindern.
Da ich selbst eine lebendige Harnsäurefabrik bin und jedesmal, wenn die
Fabrikation zunimmt, an Gichtschmerzen leide, so möchte ich wohl versuchen,
ob die Benzoesäure den Gichtanfall aufhebt, indem sie die Harnsäure mehr
auflöst. Aber ehe ich den Versuch an meinem eigenen schwachen Leibe
mache , möchte ich erst wissen , welche Wirkungen die Benzoesäure sonst
hervorbringt. — Wenn die Spiraeasäure (Salizylsäure) etwas Entsprechendes
bewirkt, so kann dieser Versuch besonders wichtig werden.“
Ebstein, Die Gicht des Jacob Berzelius.
2
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Sehr bemerkenswert ist, was Wöhle r an Berzelius am
16. September 1842 (1. c. Bd. II, S. 827) geschrieben hat:
„ . . . Die Notiz über die Verwandlung der Benzoesäure in Hippursäure
wirst Du in den hiesigen (Göttinger) Anzeigen, sowie in Liebigs Buch ge-
funden und daraus ersehen haben , dass man die Benzoesäure in grosser
Quantität essen kann, ohne dass sie schadet. Aber ob sie die Harnsäure-
bildung vermindert, ist sehr zweifelhaft. Der Versuch mit salizyliger Säure
ist noch nicht gemacht. Die Wirkung muss erst an Tieren geprüft werden,
denn wahrscheinlich ist diese Lösung giftig.“
Berzelius hat auch später die Wirkung der Salicylsäure
an sich selbst nicht probiert, auch konnte er bei der Bearbeitung
der ihn so sehr interessierenden Fragen wegen der ihn so häufig
quälenden Gicht nicht selbst mitwirken. Er schreibt am 15. Ok-
tober 1844 (1. c. S. 499) folgendes:
„Dass Du weder vom Jahresbericht noch von mir etwas gehört hast,
kommt daher, dass ich seit dem 21. September an einem Gichtanfall erkrankt
bin, der noch andauert und gerade in den letzten Tagen sehr heftig war.“
Von besonderem Interesse erscheint in diesem Briefe die
Schilderung des folgenden Zufalls (1. c. S. 500) :
. . . „Der König befahl mir dann,“ fährt Berzelius fort, „eine Liste
von ausländischen Gelehrten aufzustellen, welche er bei der kommenden Krö-
nung mit einer Ordensdekoration beehren wollte. Als dies geschehen war, fuhr
ich am 21. September vom Lande herein. Zufällig war es gerade das H erbst -
Aequinoct'ium, wo ich gewöhnlich einen Gichtanfall bekomme; ich hatte nicht
daran gedacht, aber er hatte mich nicht vergessen. Während ich auf dem
Schlosse auf Audienz wartete, verlor ich plötzlich ■ — ohne irgend ein Gefühl
von Unwohlsein und ohne jede Störung der übrigen Seelenkräfte — die Fähig-
keit, mich an das zu erinnern, was mit mir und um mich herum geschah,
aber nicht an das, was früher geschehen war, und dies dauerte bis 10 Uhr
abends, wo ich, in meinem Bette liegend, meinem Arzte M. Retzius erklärte,
dass die Senfumschläge, die er unter meine Fussohlen legte, gar nichts aus-
richten würdep, weil die Epidermis dort undurchdringlich wäre. An alles,
was von 11 Uhr morgens bis 10 Uhr abends um mich herum geschehen ist,
habe ich mich auch nachträglich nicht mehr erinnern können. Indessen wrar
ich dreiviertel Stunden beim König gewesen, hatte dort über jeden von meinen
27 Kandidaten gesprochen, ohne dass Seine Majestät das Geringste gemerkt
hatte. Als ich nach Hause kam, war Pater Moses, der von meinem Auftrag
wusste, sehr neugierig, etwas darüber zu erfahren. Als er aber aus dem na-
türlichen Grunde, weil ich selbst mich an gar nichts erinnern konnte, nichts
erfuhr, und da er ausserdem merkte, dass ich mich überhaupt an nichts, wor-
über er fragte, erinnern konnte, sondern immer behauptete, dass die Frage
nicht gestellt worden sei, und er wusste, dass ich beim Aequinoctium Gicht-
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anfälle zu bekommen pflege, so schickte er sofort nach dem Arzte. Durch
seine eifrigen Bemühungen wurde der Anfall vom Kopfe in die Füsse hinunter-
getrieben ; nachher hat die Gicht ihren Platz gewechselt zwischen den Händen,
Füssen und dem Leib und wandert so jetzt noch.“
Der vorstehend geschilderte Anfall von Amnesie, welcher
sich mit dem Auftreten von gichtischen Gelenkerscheinungen
verlor, ist um so interessanter, als der Gesundheitszustand von
Berzelius, wie aus einem vom 18. Oktober 1844 (1. c. Bd. II
S. 504) datierten Briefe hervorgeht, sich wenige Tage nach diesem
schweren Zufalle so besserte, dass er schreiben konnte:
„Meine Gesundheit hat sich in den letzten Tagen so sehr gebessert,
dass ich nächste Woche einen Spaziergang machen zu können hoffe, nachdem
ich fast einen Monat nicht aus dem Hause gekommen bin.“
Indes sollte diese Hoffnung nicht in Erfüllung gehen, denn
in dem vom 8. November 1844 (1. c. S. 509) datierten Briefe
klagte Berzelius:
„Ich kränkele wieder an Gicht.“
und daneben waren, wie aus einem Briefe vom 10. Dezember
1844 (1. c. Bd. II S. 515) hervorgeht, wieder die alten leidigen,
nervösen Beschwerden aufgetreten.
„Seit dem Dir schon mitgeteilten Gichtanfall vom 21. September bin ich“,
schreibt Berzelius, „in einem steten nervösen Zustand gewesen, untauglich,
unlustig und unwohl, so dass ich erst vorgestern auszugehen gewagt habe;
aber seitdem finde ich, dass ich andauernd wohler geworden bin.“
Leider war, wie wir dies so häufig erfahren haben, auch
diese Besserung nur eine sehr vorübergehende. Wir ersehen aus
einem Briefe vom 21. Januar 1845 (1. c. Bd. II S. 519) nämlich
folgendes :
„ . . . Nachdem ich“, schreibt Berzelius, „im Verlauf des Herbstes
einen gelinden Gichtanfall nach dem andern gehabt hatte, bekam ich gerade
am Tage der Sonnenwende, am 21. Dezember, einen neuen Anfall, der schwerer
war als irgend einer der vorhergehenden, und von einem nervösen Zustande
und einer Niedergeschlagenheit des Gemüts begleitet, die mich zu allem un-
tauglich machte. Dieses dauerte fast ununterbrochen drei Wochen. Da ver-
schrieb mir der Arzt ein Sarsaparill-Dekokt, das nach drei Tagen den
nervösen Zustand beseitigte und auch den gichtischen etwas gebessert hat, so
dass ich nun zuweilen am Schreibtisch sitzen und die vielen Briefe beant-
worten kann, die ich unterdessen erhalten habe und erst lesen konnte, nach-
dem mir etwas besser wurde.“
20
Indessen vollzogen, wie aus dem Berzelius sehen Briefe
vom 25. Februar 1845 (1. c. S. 528) sich ergibt, sich die Fort-
schritte in dem Befinden unseres Patienten nur langsam, denn
er berichtet:
„Ich befinde mich noch immer in Rekonvaleszentenzustand. Seit Ende
Dezember bin ich nicht ausgewesen, höchstens um eine kurze Schlittenfahrt
zu machen, wenn das Wetter es erlaubte.“
Es stellte sich sogar, wie Berzelius in seinem Briefe vom
25. März 1845 (1. c. Bd. II S. 531) mitteilt, auch in diesem Jahre
bei dem Frühjahrsäquinoctium , während der letzte Gichtanfall
noch nicht abgeklungen war, ein neuer ein.
„Meine Gesundheit ist“, wie Berzelius berichtet, „noch nicht ganz
restituiert. Beim Frühlingsäquinoctium vor einigen Tagen bekam ich einen
neuen, aber nicht so starken Gichtanfall, der, wie es mir scheint, jetzt im Ab-
nehmen begriffen ist.“
Jedoch auch diese Hoffnung hat sich nicht voll erfüllt. In
seinem Briefe vom 6. Juni 1845 (1. c. S. 536) hat Berzelius
wieder Gelegenheit über seine Gesundheit zu klagen; er schreibt:
„Meine Gesundheit ist fortwährend schwach und wechselnd gewesen
und die Aerzte haben mir als eine Notwendigkeit vorgeschrieben, das Karls-
baderwasser an Ort und Stelle zu gebrauchen.“
Berzelius hat auch' wie aus dem aus Berlin datierten Briefe
vom 19. Juni 1845 (1. c. Bd. II S. 540) zu ersehen ist, sofort
dem Rate der Aerzte folgend, seine Badereise angetreten und
hat sanguinischen Sinnes seine Kur begonnen.
„Ich hoffe,“ schreibt er, „mit Dir, dass Karlsbad mich auf die Dauer
hersteilen wird. Ich befinde mich freilich jetzt recht wohl, aber die Strapazen
und die Hitze sind hier doch gar zu stark.“
Zunächst schien sich die Kur auch ganz gut anzulassen, er
hatte, wie seinerzeit (25. Juli 1835) in Paris, viel von der Hitze
in Karlsbad zu leiden. Wir ersehen aus dem Briefe aus Karls-
bad vom 16. Juli 1845 (1. c. Bd. II S. 545), dass sich Berzelius
dort überdies einer sorgsamen Diät beflissen hat. Er schreibt:
„Das Brunnentrinken bekommt mir sehr gut und ich habe allen Grund,
davon grossen Nutzen für mich zu erwarten, mein Gesundheitszustand hat sich
in diesen 13 Tagen recht wesentlich gebessert, aber ich lebe auch exemplarisch
nach der Diät.“
21
Tatsächlich hat sich Berzelius, wie es scheint, nicht
nur im Verlaufe dieses Sommers wohler befunden, sondern es
ergibt sich auch aus dem Briefe vom 6. Januar 1846 (1. c.
Bd. II S. 559), dass nicht nur der nächste Gichtanfall milde
verlief, sondern dass Berzelius auch im übrigen grosse Fort-
schritte aufwies.
„Meine Gichtschmerzen“, schreibt er, „sind in der Zeit der Sonnenwende
in geringem Masse wiedergekehrt, sie haben mich aber nicht daran gehindert,
draussen zu sein und weite Spaziergänge im Schnee zu machen, etwas, was
ich jetzt selten versäume, wenn das Wetter es nicht hindert und worauf, meiner
Meinung nach, mein Wohlbefinden sicherlich beruht.“
Es dürfte dieser Erfolg der Grund gewesen sein, dass
Berzelius (vgl. den Brief vom 29. Mai 1846 [1. c. Bd. II S. 593])
sich entschloss, die Kur mit Karlsbader Wasser zu wiederholen,
diesmal nicht in Karlsbad selbst.
„Am 1. Juni fange ich an, bei Mosander Karlsbader Wasser zu trinken,
und gedenke im Verlauf des Juni mich von jeder anderen Schreiberei ausser
Briefen fernzuhalten, da so etwas sich nicht mit der Brunnenkur verträgt.“
Indessen hat, wie aus dem Briefe vom 24. Juli 1846 (1. c.
Bd. II S. 597) sich ergibt, Berzelius auch seine Korrespondenz
in dieser Zeit nicht recht gepflegt,
„ . . . weil ich,“ wie er schreibt, „während der Karlsbader Kur nur wenig
schreiben konnte, da ich, nachdem ich etwas geschrieben hatte, zu schläfrig
wurde.“
Jedoch blieb, wie sich aus dem Briefe vom 24. Dezember
1846 (1. c. S. 641) ersehen lässt, der Zustand von Berzelius
ein im grossen und ganzen zufriedenstellender.
„Mit meiner Gesundheit“, schreibt er nämlich, „geht es, Gott sei Dank,
ziemlich gut.“
Es hat sich daran, wie sich aus Berzelius’ Schreiben vom
16. F ebruar 1847 (1. c. Bd. II S. 656) ergibt, trotz eines erneuten
Gichtanfalls wenig geändert.
„Während der letzten 14 Tage habe ich“, berichtet Berzelius, „mich
wegen eines recht gelinden Anfalls meiner gewöhnlichen Gicht im Hause auf-
halten müssen. Sie fing am ersten Tage heftig an, aber liess nach und hat
mich nachher an meiner Schreiberei- Arbeit nicht gehindert.“
Indessen kehrte doch ziemlich bald, wenn auch kein akuter
Anfall von Gicht auftrat, diese Krankheit — wie ein Brief vom
22
16. April 1847 (1. c. Bd. II S. 675) besagt — in chronischer Form
wieder hervor. Berzelius schreibt:
„Ich habe schon lange Gichtschmerzen gehabt und bin Fabrikant von
Harnsäure in den schönsten roten Farben gewesen. Es ist mir nicht gelungen,
diesen roten Stoff (der nicht purpursaures Ammoniumoxyd ist) abzusondern.“
Bemerkenswert ist, dass Berzelius dabei die in verschie-
denen Nüancen gefärbte Uratsedimente hervorhebend, sich für die
Natur dieses Farbstoffs lebhaft interessierte. Auf S. 676 fährt
Berzelius fort:
„Ich bin seit Anfang Februar nicht aus dem Hause gewesen, jetzt bin
ich jedoch ziemlich frei von Gichtschmerzen, so dass ich wohl ausgehen
könnte, aber der Winter hält noch an.“
Wie wir aus dem Briefe vom 15. Juni 1847 (1. c. S. 684)
ersehen, hat sich auch diesmal eine wiederum im Hause unter-
nommene Kur mit Karlsbader Wasser gut bewährt. Berzelius
schreibt :
„ . . . Meine Gesundheit ist bei diesem schlechten Wetter, durch eine
Karlsbader Wasserkur bei Pater Moses nicht unerheblich besser geworden.“
Leider hat das gute Befinden nicht lange angehalten und
Berzelius wurde, wie aus seinem Briefe vom 2. Juli 1847 (1. c.
Bd. II S. 684) hervorgeht, von mancherlei Leiden heimgesucht,
welche wenigstens zum Teil mit dem gichtischen Prozess nichts
zu tun hatten.
„Seitdem ich“, schreibt Berzelius, „Dir zuletzt schrieb, bin ich sehr
krank gewesen. Nachdem ich während fast drei Wochen bei Mosander Karls-
bader Wasser getrunken hatte, bekam ich am 19. Juni eine Gichtgeschwulst
in der linken Seite des Gesichts und zwei Tage später ein Quoditianfieber, das
sehr schmerzhaft war, aber nun endlich durch Chininchlorammonium nachge-
lassen hat; es hat mir aber viel physische Kräfte genommen. Es tut dies
schon bei jungen Leuten und desto mehr bei mir altem Kerl.“
Hier tritt, wie auch aus dem Briefe vom 3. August 1847
(1. c. S. 689) klar hervorgeht, die im Gefolge körperlichen Uebel-
befindens sich einstellende gemütliche Depression recht sehr in
den Vordergrund.
„Ich war“, schreibt B er z e li u s , „sehr krank vor der Abreise nach
Kopenhagen und auch bei der Abfahrt noch nicht recht gesund. Mein Arzt,
M. R e t z i u s , war mein Reisekamerad und ohne ihn hätte ich nicht gewagt,
die Reise zu unternehmen. Da wir beide das kalte Fieber gehabt hatten,
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fuhren wir zu Lande und gedachten den Weg über Malmö zu nehmen, aber
bei der letzten Poststation vor Jönköping bekam ich eine so heftige Affektion
des Mastdarms und der Harnwege, dass ich in Jönköping das Bett hüten
musste, und es schien deutlich hervorzugehen, dass dies von dem Reiz eines
Blasen steines herrührte, dessen Vorhandensein ich früher keinen Anlass
zu vermuten hatte. Nach einigen Tagen konnten wir jedoch die Reise fort-
setzen.“
Berzelius fährt dann in dem seine Gesundheit betreffen-
den Berichte (S. 690) fort:
„Nach der Rückkehr aus Schonen“, schreibt er, „bin ich aufs Land ge-
zogen und gedenke bis Ende September mir eine Siesta von jeder wissen-
schaftlichen Arbeit zu gönnen , denn ich kann es mir nicht verhehlen, dass
mein Krankheitszustand von Anfang Februar bis spät in den Sommer hinein
(ich hatte ein paar Anfalle von kaltem Fieber auch in Kopenhagen) vorbereitet
wurde durch die eifrige tägliche Arbeit an dem Lehrbuch und dem Jahres-
bericht, welche so dicht nacheinander kommen, dass mir keine Ruhe zwischen
ihnen gelassen wird.“
Wir ersehen, dass die Arbeitslust bei Berzelius keineswegs
erloschen war und aus der Notiz vom 13. August 1847 (1. c.
Bd. II S. 692):
„Ich habe nichts hinzuzufügen, ausser dass ich den halben Tag auf dem
Lande und die andere Hälfte in der Stadt zubringe, fahre also jeden Tag zwei
Meilen im Wagen, bewege mich ausserdem auch zu Fuss und bin ein voll-
kommener Faulenzer. Lies wird auf die Lauer unbeschreiblich langweilig,
aber da es mir als Gesundheitsregel vorgeschrieben ist, so muss ich es aus-
halten, so lange wie die schöne Jahreszeit dauert“
ergibt sich, dass Berzelius sich auch körperlich nicht unbehag-
lich fühlte. Aber der Brief vom 16. November 1847 (1. c.
Bd. II S. 697) eröffnete eine traurige Perspektive. Wir lesen:
„Lass Lu heute meine Hand nicht erkennst, bedeutet, dass mein Ge-
sundheitszustand mir nicht gestattet selbst zu schreiben. Lank für Leinen
interessanten Reisebericht! Während der ganzen Zeit, die Lu auf Reisen und
mit Vergnügungen zugebracht hast, lag ich ausgestreckt auf dem schmerz-
haften Krankenlager. Seit Mitte September habe ich an einem Gichtanfall im
Rücken gelitten, der mich zwang, Tag und Nacht auf dem Rücken ausgestreckt
zu liegen und wenn möglich, ohne mich im geringsten zu bewegen, weil jede
Bewegung meine Schmerzen bis zur Unerträglichkeit steigerte. Lie Krankheit
befiel mich auf dem Lande ; die Entfernung von Stockholm gestattete nicht
eine solche ärztliche Behandlung, wie ich sie brauchte, und da ich hoffte, dass
die Krankheit wie gewöhnlich nach dem Herbstäquinoctium nachlassen würde,
so blieb ich auf dem Lande, aber zu dieser Zeit trat eine Verschlimmerung
ein. Anfang Oktober musste ich ein Lampfboot mieten , welches mich in
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liegender Stellung zur Stadt und nach Skeppsbron brachte, von wo ich nach
Hause getragen werden musste. Seitdem habe ich meine Zeit auch auf dem
Krankenlager zubringen müssen. Erst seit ungefähr acht Tagen änderte sich
die Krankheit so, dass die Schmerzen sich etwas verminderten und ich nun-
mehr einige Nachtruhe habe ; dafür hat sie die alte Form von Nervenschwäche
und von einer überaus grossen Niedergeschlagenheit des Gemüts angenommen.
Nach so langen Leiden haben die Kräfte so abgenommen, dass ich sicher
keine einzige Zeile mit eigener Hand schreiben könnte. Der Arzt verzweifelt
wohl auch dieses Mal nicht an meiner Herstellung. Allein ich denke für mich:
Gottes Wille geschehe!“
Ueber den weiteren Verlauf geben folgende Notizen Auf-
schluss. Am 21. Dezember 1847 (1. c. Bd. II S. 701) schreibt
Svanberg1) an Wöhler:
„Berzelius, welcher weiter krank und bettlägerig ist, ohne dass — nach
ärztlicher Aussage — viel Aussicht auf die Herstellung seiner Gesundheit vor-
handen wäre, beauftragte mich . . .“
Wöhler hatte, wie wir aus dem folgenden Briefe an Liebig
(s. Liter. -Verzeichn. 1, Bd. I, S. 304) vom 2. Januar 1848 er-
sehen, vollkommene Einsicht in die trostlose Lage von Ber-
zelius. Wöhler schreibt, dass Berzelius seit September sehr
krank ist und die fürchterlichsten Qualen auszuhalten hat.
„Er hatte“, wie mir seine Frau schreibt, „einen Anfall, infolgedessen
nun seine Beine völlig, und wie es scheint für immer, gelähmt sind. Die
Aerzte haben ihn schon ganz aufgegeben.“
In dem Brief vom 27. Januar 1848 (1. c. Bd. II S. 704) teilt
Svanberg an Wöhler folgendes mit:
„ . . . Berzelius wünschte wohl selbst darüber schreiben zu können,
er glaubt aber nicht, dass seine Kräfte jemals so zurückkehren werden, dass
er einen Brief schreiben und seine Gedanken und Kräfte in der dazu nötigen
Weise Zusammenhalten kann.
... Was Berzelius anlangt, so befindet er sich zwar augenblicklich
wöhler als bisher, aber Herr Professor möge bei jeder Ankunft der Post darauf
vorbereitet sein, das Schlimmste über ihn zu erfahren ; er selbst sagte mir bei
der letzten Zusammenkunft, dass er wohl einsehe, die ihm noch übrigbleibende
Zeit könne nicht mehr lang sein.“
*) Nach dem Namenregister zum Berzelius- Wöhler-Brief Wechsel von
Dr. Braun war L. F. Svanberg Offizier, dann Lehrer an der Kriegsakademie
zu Karlsberg, später Professor der Chemie in Upsala (1808 — 1878). Jedenfalls
stand Svanberg zu Berzelius in nahem Freundschaftsverhältnis.
25
Aus dem Briefe vom 25. Februar 1848 (1. c. S. 707), welchen
Svanberg an Wöhler richtete, ersieht man, dass der Krank-
heitsprozess mehr und mehr sich verschlechterte; denn wir er-
fahren folgendes:
„Obgleich Berzelius sich in den letzten 5 — 6 Tagen viel besser als in
den letzten Monaten befand, ist er doch noch immer gelähmt, und so krank,
dass er an nichts Wissenschaftliches denken kann ; er glaubt auch nicht, dass
er so viel Kräfte hat, um einen Brief an Herrn Professor, geschweige denn
eine Vorrede zu dem Lehrbuch der Chemie schreiben zu können.“
Daran wird auch nicht geändert, wenn Svanberg an
Wöhler in dem Briefe vom 21. März 1848 (1. c. Bd. II S. 709)
Berichte über den Zustand von Berzelius gelangen liess. Svan-
berg schreibt:
„Berzelius befand sich in der letzten Zeit bedeutend besser wie früher
und spricht sogar davon, bald wieder zu lesen und die chemischen Journale
durchsehen zu können. Nebenbei will ich erwähnen, dass Berzelius während
seiner ganzen Krankheit niemals geistesgestört oder so schwach gewesen ist,
dass er das, was er früher gemacht, geleugnet hätte.“
. . . Hierbei äusserte er: „Wenn ich, wie ich jetzt hoffe, in Zukunft
von meinen körperlichen Leiden befreit bin, werde ich zwar mit Vergnügen
in der Hauptanordnung des Lehrbuchs Wöhler unterstützen, aber in alles, was
sich auf Details bezieht, kann und will ich mich nicht mehr vertiefen, da ich
von jetzt ab meine wissenschaftliche Tätigkeit nur als die eines Dilettanten
betrachten kann.“
Der Zustand nahm, ohne auffällige akute Wechsel zu er-
fahren, nichtsdestoweniger seinen unheilvollen Fortgang. Es
möge hier ein Brief von Svanberg an Wöhler eingeschaltet
werden, welcher, abgesehen davon, dass er einen Einblick in
den Charakter und das Wesen von Berzelius gewährt und eine
zusammenfassende Uebersicht über dessen letzte, den Tod des
grossen Mannes herbeiführende Krankheit liefert , deshalb be-
merkenswert erscheint, weil Svanberg auch nicht ein Wort über
das gichtische Leiden und die damit in engem Zusammenhang
stehenden nervösen — nennen wir sie neurasthenischen — Be-
schwerden schreibt, deren Schilderung sich wie ein roter Faden
durch Berzelius’ Briefwechsel mit Wöhler hinziehet. Wir ersehen
aus den am 18. Juli und 12. September 1826 von ersterem an
letzteren gerichteten Briefen, dass Berzelius bereits damals
nicht nur an chronischen „gichtischen“ Beschwerden litt, sondern
26
dass sich gelegentlich auch in den Gelenken akute Zustände ein-
stellten, welche wohl nicht anders, als durch harnsaure Gicht ver-
anlasst aufzufassen sind, wenngleich nicht, wie es am häufigsten
der Fall ist, dieser akute Anfall in den Füssen bezw. im Gross-
zehengelenk, sondern im Knie auftrat. Indes kommen immerhin
solche Fälle auch sonst vor, wie ich aus meinen eigenen Er-
fahrungen weiss. Svanberg ist also wohl über die frühere
Krankengeschichte von Berzelius nicht gut unterrichtet gewesen.
Der Svanbergsche Brief, datiert aus Stockholm den 18. April
1848, Akademie der Wissenschaften, ist abgedruckt (1. c. Bd. II,
S. 711) und lautet folgendermassen :
Hochgeehrter Herr Kollege!
In Bezug auf den Brief vom 30. März, den ich vor einigen Tagen be-
kommen habe, erlaube ich mir folgendes mitzuteilen.
Ich kann mich augenblicklich nicht mehr erinnern, bis wie weit ich die
jetzige Krankheit von Berzelius ausführlich beschrieben und über ihre Ent-
wickelung und ihren Fortgang Bericht erstattet habe, weshalb ich jetzt nach
dem Wunsche des Herrn Professors versuchen will, darüber ziemlich umständ-
lich zu referieren, um einen Begriff davon zu geben. Zuerst muss ich jedoch
daran erinnern, dass Berzelius seit seiner Jugend an Migräne gelitten hat, die
sich bei Neumond und Vollmond besonders fühlbar machte, und dass diese
Migräne bei den Aequinoktien und bei der Sommer- und Wintersonnenwende
stets einen schwereren Charakter annahm. Eine Veränderung in diesem Zu-
stande ist nur dann eingetreten, wenn er in anderer Weise krank gewesen ist
oder einen ernsthaften Krankheitszustand befürchten musste. Diese Migräne
hat immer nur zwei, zuweilen drei Tage- gedauert, wonach er sich immer wie-
der vollkommen wohl befand. Ich will dies auch deshalb nicht Krankheit
nennen, da es sich immer von selbst gelegt hat. Ausserdem ist er dabei nie-
mals reizbar oder übler Laune gewesen, sondern dieser Zustand lässt sich am
besten mit dem Unwohlsein der Frau während der Menstruationszeiten ver-
gleichen. Seine Freundlichkeit gegen andere, seine Auffassung der Zeitver-
hältnisse, sein Urteil über andere Personen und sein* fast täglich ausgespro-
chenes Glaubensbekenntnis, dass alles zu einem besseren Zustand fortschreite,
sind dabei keineswegs gestört oder verändert worden, ebensowenig wie er da-
bei jemals schlaff geworden ist oder von der männlichen Kraftfülle, die bei
ihm stets vorherrschend war, etwas eingebüsst hätte. Ausser diesem regel-
mässigen Uebelbeflnden ist Berzelius’ Gesundheit sehr gut gewesen und erst
in den letzten zehn Jahren hat er sich zuweilen in anderer Weise nicht mehr
ganz frisch gefühlt und sich darüber beklagt, dass er nicht mehr mit derselben
Kraft wie früher arbeiten könnte. Was das vergangene Jahr betrifft, so fühlte
er sich zu einer ungewöhnlichen Zeit, Anfang Februar, etwTas schlecht, weshalb
er während mehrerer Wochen keine Einladung mehr annahm, sondern bis
27
Ende April in seiner Wohnung blieb. Er beschäftigte sich hauptsächlich mit
dem Schreiben an dem Jahresbericht und mit verschiedenen anderen zu seinem
Amte gehörenden Arbeiten. Während dieser Zeit empfing er gern Besuche und
schien darin mehr Unterhaltung als früher zu finden, sprach gern über ver-
schiedene, auch nicht wissenschaftliche Sachen und fasste das Tun von an-
deren Personen keineswegs von irgend einer Schattenseite auf. Im Gegenteil
zeigte er sich während der ganzen letzten Zeit geneigt, alles zum Besten zu
deuten, und beurteilte und besprach auch in schonender Weise solche Ereig-
nisse, die sicher von ihm früher weniger gelinde beurteilt wurden, wobei ich
mich ganz besonders an seine Ansichten über Liebigs Publikationen erinnere.
Erst Ende April verliess er das Zimmer nach dreimonatlichem Zuhausesitzen,
bekam aber Ende Mai leichte Anfälle von kaltem Fieber, so dass er glaubte,
er würde der Naturforscherversammlung in Kopenhagen wahrscheinlich nicht
beiwohnen können. Der Jahresbericht war inzwischen ganz fertig verfasst
und man konnte nicht die geringste Erschlaffung seines starken Geistes oder
seines Interesses für die Wissenschaft bemerken. Besonders erinnere ich mich
dabei an seine Freude, als er den Weg zur Erklärung der Allophansäure und
verschiedener anderer organischer Yerbindungs Verhältnisse gefunden hatte,
und seine Betrübnis, als er das unwahre Gerücht von Mulders Tod erfuhr,
wobei er beklagte, dass eine Person gestorben wäre, die die Zeit und die
Wissenschaft gerade jetzt in der physiologischen Chemie gebrauchen könnten,
da diese Person in ihrer Forschungs weise auf einer Bahn fortschreite, die stets
zum Ziele führte, während Liebig, wie er sagte, auf einen Weg abgewichen
wäre, worauf es einem leid tut, einen Mann der Wissenschaft zu sehen. Von
seinen Anfällen des Wechselfiebers ziemlich hergestellt, reiste er jedoch An-
fang Juli nach Kopenhagen und nahm dort, ausser an einem einzigen Tage,
an den Sektionsversammlungen, wie auch an den Mittagessen, Ausfahrten u. s. w.
teil. Nach Stockholm zurückgekehrt, fühlte er sich vollständig gesund, fürchtete
aber zuweilen, dass sein Leiden von irgend einem Stein, der sich in der Harn-
blase zu bilden anfinge, herrühren könnte. Im August und Anfang September
hatte er wenig an seiner Gesundheit auszusetzen, und erst Mitte September
klagte er über Schmerzen im Rücken. Während dieser Zeit wohnte er auf
dem Lande, eine halbe Meile ausserhalb der Stadt, und konnte nicht so wie
früher nach Stockholm hereinkommen, weil das Fahren im Wagen und die
dadurch erfolgte Erschütterung ihm Rückenschmerzen verursachten. Uebrigens
war er auch in dieser Zeit nicht so krank, dass es auf sein Gemüt einwirkte.
Er zog sich frühmorgens wie gewöhnlich an, blieb aber fast den ganzen Tag
im Lehnstuhl still sitzen, wobei er sich etwas mit Schreiben und besonders
mit dem Lesen von wissenschaftlichen Journalen beschäftigte zur Vorbereitung,
um im Herbst die weitläufige Arbeit eines Lehrbuchs in Angriff zu nehmen,
das er mit ganzer Seele umfasste und „mein Testament an die Nachwelt“
nannte. Das Leiden im Rücken nahm jedoch zu, und da er die erforderliche
genaue ärztliche Aufsicht auf dem Lande nicht haben konnte, so fuhr er auf
einem speziell dafür gemieteten Dampfboot Anfang Oktober in die Stadt —
ich glaube es war am 8. Oktober. — Von dieser Zeit an verbesserte sich je-
doch seine Gesundheit nicht, sondern wurde täglich schlechter. Zwar war er
28
jeden Tag angezogen und konnte auch aus einem Zimmer ins andere gehen,
aber die Schmerzen im Rücken nahmen immer mehr zu und waren besonders
des Nachts sehr schlimm, so dass er nur wenig und nie, ohne erst einige
Tropfen Opium eingenommen zu haben, schlafen konnte. Dabei verlor sein
Gemüt etwas an Spannkraft, er wurde jetzt durch lange Besuche ermüdet und
brachte den Tag immer mehr allein zu, indem er sich dabei mit leichter ver-
daulicher Lektüre als einer rein wissenschaftlichen beschäftigte. Zwar glaubte
er noch, dass das Leiden ihn verlassen würde; er bereitete sich darauf vor,
einen Schüler in seinem Laboratorium aufzunehmen und beklagte sich darüber,
dass so viel Zeit in unnötiger Weise für ihn verloren ginge, da er noch so
viel Arbeit, die ihm auszuführen oblag, vorhatte. Indessen nahm das Leiden
immer mehr und mehr zu, und in der Nacht vom letzten November auf den
ersten Dezember bekam er einen Anfall, der besonders schwer war, wobei er
an den Beinen vollständig gelähmt wurde, was nachher so geblieben ist. Nach
diesem Anfall hatte kein anderer als sein Arzt Zutritt zu ihm bis zum 10. De-
zember, und bei der Frage nach seiner Gesundheit fürchtete man täglich die
traurigste Nachricht zu bekommen. An dem genannten Tage rief er mich zu
sich, beauftragte mich von jetzt an den Jahresbericht zu verfassen, indem er
erklärte, er würde zwar immer so lange, wie er noch lebe, der Wissenschaft
mit Interesse folgen, wolle aber als Verfasser nicht mehr auftreten; Wöhler
müsse das Lehrbuch fortsetzen, er selbst würde wohl später, wenn seine Ge-
sundheit sich bessere, mit Ratschlägen Beistand leisten, aber dann nicht auf
die Befolgung dieser Ratschläge bestehen; er meinte nicht irgend etwas von
dem, was er geschrieben habe, zurücknehmen zu müssen, und auch das, was
aus seiner Hand zuletzt hervorgegangen wäre, sei in solcher Weise verfasst,
dass er glaube, dass niemand, der ruhig und unparteiisch von dem jetzigen
Standpunkt der Wissenschaft Kenntnis nähme, etwas Wesentliches ihm vorzu-
werfen haben würde.
Wie es sich seitdem mit ihm verhalten hat, habe ich von Zeit zu Zeit
in verschiedenen Briefen erwähnt, wreshalb ich jetzt nur über seinen jetzigen
Zustand zu sprechen brauche. Seit Mitte März, besonders seit dem 20., ist
Berzelius’ Gemütsstimmung viel besser gewesen, obgleich er noch immer und
wahrscheinlich Zeit seines Lebens gelähmt ist. Er sitzt den ganzen Tag von
7 Uhr morgens bis 1/2 11 Uhr abends in seinem Schlafrock im Lehnstuhl. Da-
bei liest er oder lässt sich allerlei Sachen aus der schönen Literatur vorlesen,
sowohl auf schwedisch wie auch besonders auf französich, deutsch und eng-
lisch. Vormittags empfängt er gern Besuch und spricht oft sehr lebhaft und
umfasst mit eifrigem Interesse die grossen Tagesfragen, welche jetzt verhan-
delt werden. Hierbei ist es bemerkenswert, dass er die Richtung, die zur Zeit
zur Ordnung dieser wichtigen Angelegenheiten eingeschlagen zu werden scheint,
keineswegs verurteilt. Demnach war er sehr erfreut über die Ereignisse in
Wien, und meint, dass alles, obgleich für den Augenblick störend, dennoch in
einer für die Menschheit förderlichen Weise sich regeln würde. Er erblickt
in der jetzigen Bewegung eine Art von Notwendigkeit und hat eine Achtung
und Toleranz für die Meinung anderer, die als Muster dienen kann. Er sehnt
sich aber sehr danach, von seinen deutschen Freunden Nachrichten über die
29
jetzige Lage der Gelehrten zu erhalten, und es würde ihn sehr freuen, wenn
Herr Professor ihm darüber Mitteilungen zukommen liesse, wiewohl er selbst
wahrscheinlich nie mehr einen Brief wird beantworten können.
Wir ersehen aus dem vorstehenden Briefe, dass Svanberg
trotz seiner nahen Beziehungen zu Berzelius von dessen altem
Gichtleiden entweder nichts wusste oder nichts sagen wollte.
Dagegen setzte Svanberg alles daran, die Gerüchte, welche über
Berzelius’ Geisteszustand im Umlauf waren, zum Schweigen zu
bringen und wandte sich deshalb an Fr. Wühler. Dieser
schreibt an Liebig (siehe deren Briefwechsel I. Bd., S. 307 und
308) am 4. März 1848 unter Rücksichtnahme auf einen von Svan-
berg an ihn gerichteten Brief vom 25. Februar 1848, in welchem
dieser gewisse über Berzelius’ Gesundheitszustand »umlaufende
Gerüchte erwähnt:
,.Hier in Stockholm heisst es, in Deutschland habe sich ein sehr un-
günstiges Gerücht über Berzelius’ Geisteszustand verbreitet . . .“
Svanberg gibt der Vermutung Ausdruck, dass wohl dieses
Gerücht von dem ausgezeichneten Chemiker ausgehe, mit dem
sich Berzelius in der letzten Zeit in theoretischen Fragen ge-
stritten hat. Es kann damit nach Lage der Sache kein anderer
als Liebig gemeint sein. Wühler erklärt nun Liebig in ge-
harnischter Weise, dass der Uopf von Berzelius auch während
der heftigsten Gichtanfälle nie gelitten habe und dass er bei
vüllig ungetrübter Verstandeskraft geblieben sei. Wühler be-
gründet diese Behauptung nicht nur durch die brieflichen Mit-
teilungen von Berzelius’ Gattin an Frau Svanberg, sondern
auch unter Hinweis auf den eben ausführlich mitgeteilten „merk-
würdigen“ Brief von Berzelius selbst, welchen dieser zwar nicht
eigenhändig geschrieben, sondern diktiert hatte, da er nur noch
mit zitternder Hand seine Unterschrift darunter setzen konnte.
Das Gehirn, schreibt Wühler, ist nicht im mindesten affiziert,
sondern nur das Rückenmark. Vergl. auch oben — Seite 25 —
die briefliche Mitteilung von Svanberg an Wühler vom 21. März
1848, in welcher die geistige Gesundheit von Berzelius ener-
gisch betont wird. Das kürperliche Befinden ging aber immer
mehr zurück. In dem Briefe vom 28. Juli 1848 (1. c. S. 720),
30
welchen Svanberg sodann an Wühler richtete, finden wir lei-
der einen wenig tröstlichen Bericht über den Gesundheitszustand
von Berzelius. Svanberg schreibt:
„In dem Gesundheitszustand von Berzelius ist seit einigen Monaten
keine Veränderung eingetreten. Seit Johanni ist er schon zum dritten Mal
am Rückgrat gebrannt worden, und wir machen uns hier nunmehr nicht die
geringste Hoffnung mehr auf Wiederherstellung seiner Gesundheit, sondern
halten es für höchst wahrscheinlich, dass er in der Zeit zwischen dem Herbst-
äquinoctium und der Wintersonnenwende sterben wird.“
Der Tod hat aber noch früher Berzelius von seinem Leiden
erlöst. Svanberg schreibt an Wühler in seinem Briefe vom
8. August 1848 (1. c. S. 727) über die beiden letzten Leidens-
wochen von Berzelius folgendes:
„Als ich vor fast zwei Wochen die Freude hatte, an Herrn Hofrat zu
schreiben und dabei über Berzelius’ Gesundheitszustand berichtete, glaubte
ich nicht , dass sein Tod so nahe bevorstand. Berzelius wTar damals wirklich
nicht kränker als er schon längere Zeit gewesen war, obgleich er täglich an
Kräften abnahm. Am letzten Juli war er jedoch matter als gewöhnlich und
klagte darüber, dass die Wunden, die er durch lange andauerndes Sitzen und
Liegen bekommen hatte, ihn mehr als gewöhnlich schmerzten. In der Nacht
wurde es schlimmer und am 1. August befand er sich so schlecht, dass man
bald glaubte, sein Leben würde nur noch einige Stunden dauern können. Von
der Zeit an erhielt niemand mehr Zutritt als der Arzt und diejenigen, die ihn
pflegten. Sein Zustand verschlimmerte sich nun mehr und mehr, und auch
seine Freunde und Angehörigen wünschten, dass er bald von seinen Leiden
erlöst werden möge. Er lebte aber noch weiter bis gestern morgen um 2 Uhr,
nachdem er während der letzten sechs Tage im Halbschlummer gelegen hatte.
Die Klarheit seines Verstandes behielt er bis zum letzten Augenblick, obgleich
er nicht mehr sprach,“
In dem Briefwechsel zwischen Li e big und Wühler (Bd. I,
S. 319) schreibt letzterer am 16. August 1848 an Liebig:
„Berzelius ist in der Nacht vom 6. auf den 7. gestorben. Bei der
Sektion zeigte sich eine zolllange rote Erweichung des Rückenmarks. Bis
zum 1. d. Mts. befand er sich ganz leidlich, brachte den Tag in einem Roll-
stuhl zu und beschäftigte sich mit dem Lesen oder Vorlesenlassen, wie denn
seine geistigen Funktionen bis selbst wenige Stunden vor seinem Tode ganz
ungestört blieben. Vom 1. an trat eine grosse Kraftabnahme ein, so dass er
nicht mehr ausser dem Bett zubringen konnte und er nur noch wenig sprach.“
Die Ungestörtheit der geistigen Funktionen von Berzelius
wird auch hier von Wühler in seinem Schreiben an Liebig
ausdrücklich betont.
31
Der tödliche Ausgang war übrigens lange vorher erwartet
worden. In dem Briefwechsel zwischen Wohl er und Liebig schreibt
der erstere an letzteren am 19. Februar 1848 (1. c. Bd. I, S. 306):
„Es ist umsonst, wenn Du an Berzelius schreibst, weil Dein Brief
ihn nicht mehr am Leben treffen könnte. Du glaubst nicht, wie wehe es mir
tut, dass es so zwischen Euch gekommen ist.“
Diese Wöhlerschen Mitteilungen an Liebig sprechen jeden-
falls dafür, dass und warum letzterer über Berzelius’ Schicksal
nicht direkt unterrichtet war. Nach dem Urteil, welches Ber-
zelius — wie wir aus dem ausführlichen Briefe Svanbergs an Wöhler
ersehen — über Liebig hatte, wird es uns nicht wundern, dass
Liebig auch über Berzelius’ schwere Krankheit auf indirekte
Mitteilungen angewiesen war. In Berzelius’ und Liebigs
Briefwechsel, herausgegeben von J. Carriere, findet sich daher
ausser den oben angegebenen Notizen über Berzelius’ Gesund-
heitszustand nichts; über die letzte Krankheit von Berzelius ist die
Wöhlersche Korrespondenz mit Berzelius selbst und seinen Freun-
den die Hauptquelle. Die knappe Notiz Wöhlers über den Sektions-
befund wird wenigstens, was die Veränderung des Rückenmarks
betrifft, durch den folgenden Auszug aus den „Verhandlungen
der schwedischen medizinischen Gesellschaft vom Oktober 1847 bis
September 1848“ (Stockholm 1848) vervollständigt. Hier heisst es:
Herr Retzius erstattete Bericht über die Sektion der Leiche
von Freih. Berzelius. Dabei zeigte sich nichts Bemerkenswertes
ausser einem Fleck auf dem Rückenmark, eine sogenannte rote
Erweichung des Rückenmarks, gerade vor dem neunten Rücken-
wirbel. Sie ist von einem Zoll Länge und drang in die Tiefe
hinein bis zum Zentrum, erstreckte sich aber nicht auf die
anderen Stränge. Auf der nämlichen Stelle war auch das Mark
zusammengeschrumpft, wie auch auf einer kleineren, nahe dar-
unter befindlichen Stelle.
Hr. Huss bemerkte: dass die Emollition nach einem apo-
plektischen Anfall entstanden sei und sowohl motorische Läh-
mung als auch Unempfindlichkeit und qualvolle Schmerzen zur
Folge hatte. Der Tod war zunächst durch die grossen gangrä-
nösen Druckbrandstellen veranlasst.
32
Einige Auszüge aus Briefen von Frau Mosander1) mögen
die Geschichte der letzten Lebenszeit von Berzelius vervoll-
ständigen. Sie schreibt am 12. Oktober 1847 :
„Berzelius leidet sehr an Rheumatismus im Rücken.“
Stockholm, 4. November.
„Ein junger Struve, Sohn des Astronomen, ist angekommen, um den
Winter über in dem Laboratorium und unter der Leitung von Berzelius zu
arbeiten, wozu es wahrscheinlich nicht kommen wird, da der gute Berzelius
einen schweren Gichtanfall im Rücken seit einigen Wochen hat und es scheint,
dass er noch lange daran leiden wird. Er erlaubte mir gestern eine Stunde
mit ihm in der Bibliothek, neben dem berühmten Laboratorium zuzubringen.
Armer, grosser Mann! Er leidet zuweilen schwer. Um sich zu zerstreuen
liest er Romane.“
Stockholm, 14. November 1847.
„Ich fürchte sehr, dass wir in diesem Hause unsern grossen, unseren
lieben Berzelius bald zu betrauern haben werden. Er wird Tag für Tag
schlechter und obwohl er in Zwischenpausen etwas besser zu sein scheint,
fürchten die Aerzte doch, dass der letzte Sand seines Lebensglases schnell
verschwinden wird. Schon Anfang Oktober hatte er einen schweren Anfall
von Gicht oder Rheumatismus im Rückgrat, er hielt sich damals in Kjevinge
(dem Landgut seines Schwiegervaters) auf. Er wurde so empfindlich gegen
jeden, auf seinen Körper ausgeübten Druck, dass es unmöglich war, ihn in
einem Wagen nach der Stadt zu bringen, ein Dampfboot wurde dafür genom-
men. Als ich ihn zum letztenmale sah, hatte er schwere Schmerzen zu er-
tragen, doch war keine augenblickliche Lebensgefahr, seitdem haben die
Schmerzen indes immer zugenommen und sind zu Zeiten quälend. Er hat
nur Ruhe, wenn er Opium nimmt, und scheint schon zu viel genommen zu
haben, da die unteren Teile seines Körpers ungefähr seit einer Woche gelähmt
oder empfindungslos sind. Vor zwei Tagen sprach Mosander mit dem lieben
Patienten. An dem Tage hatten wir etwas Hoffnung und es scheint, dass
Berzelius dies gehört hat, denn er versicherte Mosander, dass er zufrieden sein
werde, sein Leben zu fristen, selbst wenn er den Gebrauch seiner unteren
Gliedmassen nicht wieder erlange, vorausgesetzt, dass Kopf und Hände ihm
zu Gebote ständen. Ach! Wir fürchten, dass dies niemals der Fall sein wird
— vielleicht schon ehe dieser Brief Sie erreicht, ist der grosse Geist unseres
Freundes nach dem unbekannten Land enteilt!!! —
Der junge Struve ist wegen Berzelius sehr betrübt, da er hierher kam
um in seinem Laboratorium und unter der Leitung des Königs der Chemie
zu arbeiten, dies ist aber jetzt unmöglich.“
Angsholm, September 1848.
„Berzelius ist tot. Am 7. August, um 2 Uhr morgens, wurde sein Geist
erlöst und fand sein Körper, der so viele Monate mit dem Tod rang, Ruhe.
*) Frau Mosander, Gattin des Professors der Chemie und Mineralogie
am Karolinischen Institut in Stockholm.
— 33 —
Ich besuchte ihn ein paar Tage vorher, durfte ihn aber nur durch die halb-
offene Tür sehen. Er hatte einen schweren Frostanfall gehabt, man glaubte,
dass er den Tod bringen werde; aber erst nach einigen Tagen, nach einem
viel leichteren Frostanfall trat er ein. Als ich Berzelius verliess, traf ich Pro-
fessor Huse (seinen Arzt), der mir sagte, dass alles bald vorüber sein werde,
da sein Körper schon mit dunklen, brandigen Flecken bedeckt sei, die ihn
zum Teil unempfindlich gegen Schmerz machten.“
Zum Schluss sei noch der Auszug aus einem Brief von
Dr. med. August Franck, der als junger stud. med. als Kranken-
wärter während Berzelius’ letzter Krankheit behilflich war, mit-
geteilt *) :
Malmö, 28. November 1899.
„Baron Berzelius’ Krankheit bestand in einer Rückenmarksaffektion,
Lähmung der Blase, des Mastdarms und der unteren Extremitäten, weshalb
es sehr wahrscheinlich ist, dass kalter Brand in den Füssen vor dem Ende
eintrat, doch erinnere ich mich nicht dies gehört zu haben, es ist aber,
wie gesagt, sehr wahrscheinlich. Noch schwerere Schmerzen hatte er nicht."
3. Zusammenfassende Uebersicht und Bemerkungen.
Der sachverständige Arzt darf angesichts der vorstehenden
Mitteilungen die Frage aufwerfen, ob eine solche auf Grund von
selbstbiographischen Notizen und besonders von brieflichen Er-
örterungen verfasste Krankengeschichte, deren Abschluss freilich
durch die objektive Beschreibung der letzten Lebens- und Leidens-
tage und durch einen Leichenbefund seines langjährigen Arztes
Retzius ergänzt ist , als ein im medizinischen Sinne gültiges
Aktenstück anzusehen ist. Ich möchte diese Frage in unserem
Falle bejahen und zwar aus folgenden Gründen. Zunächst ver-
dient ein so vortrefflicher Naturforscher und hervorragender
Beobachter das vollste Vertrauen betreffs der Angaben, welche
er über seinen körperlichen Zustand gemacht hat, zumal seine
eigenen Wahrnehmungen in dieser Beziehung durch seinen all-
gemein und besonders von Berzelius selbst ausserordentlich hoch-
geschätzten Arzt Magnus Retzius kontrolliert und beglaubigt
worden sind. Ferner aber — und dies ist bei der Beurteilung
3 Nach der brieflichen Mitteilung von Herrn G. Lindström, dem Kustos
des Berzeliusmuseums in Stockholm, vom 20. Januar 1904 war stud. Franck
vom November 1847 bis Januar 1848 bei Berzelius’ Krankenpflege behilflich.
Ebstein, Die Gicht des Jacob Berzelius. 3
34
dieser Frage sicher von der grössten Bedeutung — ist in Be-
tracht zu ziehen , dass Berzelius selbst Arzt war. In dieser Be-
ziehung dürfte die nach einer photographischen Reproduktion
hier beigefügte Wiedergabe eines von Berzelius selbst verschrie-
benen Rezeptes von Interesse für den Leser sein. Berzelius
Namensunterschrift findet sich auf dem Rezept, ebenso der
Namen dessen, für welchen das Rezept von ihm verschrieben
worden ist. Ich verdanke den Separatabdruck der Veröffent-
lichung dieses interessanten „Berzeliusandenkens“ in der Svensk
35
Farmaceutisk Tidskrift No. 23, 1903 der Liebenswürdigkeit des
eifrigen Knstos des Berzeliusmuseums Herrn G. Lind ström,
Assistenten an der mineralogischen Reichsanstalt in Stockholm.
Das Rezept entstammt der allerdings nur kurzen Zeit, in welcher
Berzelius als Arzt praktizierte. Herrn Lindström verdanke ich
ausserdem noch folgende Notizen über Berzelius’ ärztliche Tätig-
keit, von welcher überhaupt nur wenig bekannt ist. Berzelius
praktizierte nur einige Jahre, zum Teil als Armenarzt in Stock-
holm. Dagegen fungierte er als Professor am Carolinischen
Medico-Chirurgischen Institut ungefähr dreissig Jahre und hat
einige Werke über Tierchemie, Pharmacie u. s. w. verfasst. Als
junger Stud. medic. stellte er einige medizinische Versuche mit
der Voltasäule an. Das Ergebnis dieser Versuche legte Berzelius
in seiner behufs Erlangung des medizinischen Doktorgrades ver-
fassten Inauguraldissertation: „De electricitatis Galvanicae appa-
ratu Cel. Volta, excitae in corpora organica, effectu.“ Upsalae
1802 nieder. Ich möchte hier noch hinzufügen, dass sich das
lebhafte Interesse, welches Berzelius der Medizin entgegenbrachte,
in unzweifelhafter Weise aus seinem Jahresbericht über die Fort-
schritte der physischen Wissenschaften (Deutsch von F. Wöhler
VIII, S. 9, Tübingen 1829) gelegentlich der Besprechung des
Wheatstone’ sehen Mikrophons ergibt. „Dieses Instrument“ ,
so schliesst Berzelius seinen Bericht, „kann vielleicht in der Heil-
kunde von grosser Anwendbarkeit werden, wo es oft von grosser
Wichtigkeit ist, die schwächsten Töne im Inneren des Körpers
vernehmen zu können.“ So weit ich die Sache übersehe (vgl.
meine Arbeit: „Einige Bemerkungen zur Geschichte des Stetho-
skops“ im Deutschen Archiv für klinische Medizin LXIX, 1901,
S. 492) ist das Wheatstone’sche Instrument das erste solide und
binaurale Stethoskop, welches überhaupt konstruiert worden ist.
In der ärztlichen Praxis scheint trotz des Hinweises von Ber-
zelius aber davon kein Gebrauch gemacht worden zu sein. Diese
Tatsachen beweisen, dass Berzelius nach seinen ärztlichen Quali-
täten sehr wohl befähigt war, ein fachmännisches Urteil über
seinen eigenen Zustand abzugeben. Vergessen wir ferner nicht,
dass derjenige, welchem Berzelius sein Herz ausschüttete und
36
sein körperliches Leid und Gebreste klagte, Fr. Wohl er, auch
Arzt war (vgl. meine Notiz in der Deutsch, mediz. Wochenschr.
1900, No. 30: „Zum 100. Geburtstage von Friedrich Wöhler“).
Wie von mir schon oben angegeben wurde, war Wöhler der
einzige seiner Bekannten und Freunde, welchen Berzelius
auch in dieser Beziehung seines vollsten und unbeschränktesten
Vertrauens gewürdigt hat. Berzelius hatte die Neigung, welche
wir bei vielen Gichtkranken finden ; alle seine Schmerzen und
Krankheitszustände zunächst auf seinen alten Quälgeist , die
Gicht, zu beziehen. Interessant ist in dieser Richtung besonders
seine deswegen mit Wöhler gepflogene Korrespondenz betreffs
der Krankheitssymptome, welche bei Berzelius auftraten, als er
sich mit Tellurstudien beschäftigte (vgl. S. 7), welche Symptome
auch Wöhler geneigt war für gichtisch zu halten. Berzelius ist,
wie wir gesehen haben, sehr bald davon zurückgekommen. Diese
Beobachtungen sind wohl die ersten, wodurch die giftige Natur
des Tellurs klargelegt worden ist *). Dass die Krankheit von Ber-
zelius wirklich Arthritis uratica war, dafür spricht zunächst, dass er
selbst als ätiologisches Moment die Harnsäure anklagt. Es muss
dies wohl oder übel angenommen werden, denn er klagt (S. 22) :
„Ich habe schon lange Gichtschmerzen gehabt und bin Fabri-
kant von Harnsäure in den schönsten roten Farben gewesen.“
Wie es mit der familiären Belastung bei Berzelius gestanden
hat, weiss ich nicht zu sagen, aber welche individuelle prädis-
ponierende Momente bei ihm obgewaltet haben, lässt sich leichter
beantworten. Abgesehen davon, dass bereits ziemlich frühzeitig
in seinem Leben gewisse Erscheinungen seitens des Nerven-
systems vorhanden gewesen sind, welche mit seinem typischen
gichtischen Leiden in einem gewissen kausalen Zusammenhänge
gestanden haben, ist es sehr bemerkenswert, dass Berzelius schon
9 Vgl. Czapek, Fr. und Weil, Jos. Ueber die Wirkung des Selens
und Tellurs auf den tierischen Organismus. Archiv f. experim. Pathologie
u. s. w. XXXII, 1893, S. 448. Tellur, mit ausführlichen Literaturan gaben ;
(Berzelius ist nicht erwähnt; als erster Forscher, welcher Versuche mit
Tellurpräparaten anstellte, ist Gmelin — 1824 — angegeben), sowie auch vgl.
Hofmeister, Fr., Ueber Methylierung im Tierkörper. Ebenda Bd. XXXIII,
S. 198, 1893.
37
vorher Gichtanfälle hatte. In Berzelius’ biographischen Aufzeich-
nungen lesen wir nämlich, dass seine Gesundheit von Jugend
auf infolge kleiner gichtartiger Anfälle, welche schon in der
Kindheit ihren Anfang nahmen, eine schwankende war. Wir
dürften auch nicht fehl gehen, wenn wir mit Berzelius an-
nehmen, dass die ihm mangelnde Körperbewegung während eines
grossen Teiles des Jahres ein prädisponierendes Moment für das
Auftreten der Gicht gewesen ist. Die periodischen Kopfschmerzen,
welche Berzelius bereits seit seinem 23. Jahre heimsuchten und
für welche er wegen der Zeit ihres Auftretens gewisse Mond-
phasen mit grosser Wärme verantwortlich gemacht hat, sind
ohne jeden Zweifel ein gichtisches Symptom. Seit langer Zeit
kennt man die gichtischen Kopfschmerzen und bekannt ist,
dass Garrod sogar ein Alternieren heftiger Kopfschmerzen mit
dem akuten Gichtanfall beobachtet hat (cf. A. B. Garrod,
Gout, 2. edit, London 1863, S. 514). Auch anderweitige Meta-
stasen sind bei der Gicht mannigfach beschrieben worden,
welche, wenngleich zum Teil in ihrer Deutung schwierig, nichts-
destoweniger von klinischem Interesse sind. Ich erinnere z. B.
an die 46. Beobachtung in R. B. Todds Clinical lectures on
certain diseases of the urinary Organs etc., London 1857, S. 363:
„Metastasis of gout from the feet in the bladder“. Es handelte
sich hier um einen Gichtanfall, welcher so heftig war, dass der
eine Eiterung witternde Wundarzt einen Einschnitt machte.
Es entleerte sich aber nur Blut. Am nächsten Tage waren die
befallenen Füsse frei von Gicht, dagegen war die Blase reizbar,
die Harnentleerung war schmerzhaft und häufig und der Urin
enthielt blutigen Schleim. Auch die Blasenreizung liess in
wenigen Tagen nach und jetzt wurde die Herztätigkeit in er-
schreckender Weise unregelmässig und intermittierend, und ob-
gleich mehr als einmal die Gicht mit Erfolg in die Extremitäten
gelockt worden war, dauerte es viele Monate, bevor die Herz-
tätigkeit wieder kräftig und rhythmisch wurde. Kehren wir nun
zu Berzelius und zwar zu den nervösen Symptomen bei seiner
Gicht zurück, so zieht sich durch seine ganze Leidensgeschichte
der Symptomenkomplex , welchen er selbst als seine „nervösen
38
Gichtanfälle“ bezeichnet hat. Sie charakterisierten sich durch
Niedergeschlagenheit und äussersten Widerwillen gegen die Arbeit.
Berzelius berichtet (s. o. S. 12), dass während eines Zustandes,
wobei er sich nur mit dem äussersten Widerwillen mit dem Ab-
schreiben seines Lehrbuches beschäftigen konnte , sein Arzt,
M. Retzius gesagt habe, dass er „die Teufelei bis in die Zehen-
spitzen heruntertreiben werde, weiter käme er damit nicht“.
Es handelt sich also hier um dieselbe Vorstellung, welcher wir
auch in der eben angeführten Aeusserung von Todd begegnet
sind. „Als Retzius nun anfing zu pflastern,“ erzählt in seinem
Briefe Berzelius seinem Freunde W ö h 1 e r und fordert ihn
auf sich zu der Sache zu äussern, „bekam ich Schmerzen in den
Knien, den Füssen und schliesslich in den grossen Zehen und
alles, auch die ganze hypochondrische Last, welche mich vor-
her so niederdrückte, verschwand wie durch eine Magie!“ Nicht
immer vollzog sich die Heilung solcher Zustände „wie durch
Magie“. Wir erfahren z. B. aus dem Briefe vom 21. Januar 1845,
in welcher Zeit Berzelius etwa einen Monat vorher, d. h. an
einem in der Zeit der Sonnenwende — welcher er unentwegt
eine recht bedeutungsvolle Rolle in der Geschichte seiner Gicht
zugeschrieben hat — aufgetretenen Gichtanfälle litt , welcher
schwerer als irgend einer der ihm vorhergehenden war, und der
von einem nervösen Zustande und einer Niedergeschlagenheit
des Gemüts begleitet war, dass Berzelius’ Arzt ihm dagegen ein
Sarsaparill-Dekokt verschrieben habe, welches nach drei Tagen
den nervösen Zustand beseitigte und auch den gichtischen etwas
gebessert habe. Es handelt sich hier wahrscheinlich um das
Decoctum Sarsaparillae composit., welchem die Empfehlung von
Sydenham zur Seite steht. Was nun die schweren nervösen
gichtischen Symptome betrifft, welche auch Berzelius so sehr
gequält haben, so sind dieselben seit langer Zeit naturgetreu
geschildert worden. Ich erinnere an die Arthritis melancholica
von Wilhelm Mus grave, welcher derselben das fünfte Kapitel
seiner : De arthritide symptomatica. Dissertatio (Exoniae MDCCIII,
S. 74 und seq.) gewidmet hat. Trousseau hat im dritten Bande
seiner medizinischen Klinik des Hotel-Dieu in Paris (nach der
2. Aufl. deutsch bearbeitet von P. Niemeyer, Würzburg 1868,
S. 268) solche Erscheinungen als Initial Symptome beim Beginn
des Gichtanfalls erwähnt. „Der Kranke“, sagt Trousseau, „klagt
dabei über Schwere im Kopf und über Unfähigkeit zu jeder
geistigen Arbeit. Bei Berzelius war dies Symptom anscheinend
nie ein rasch vorübergehendes, sondern ein durch längere Zeit
sich hinziehendes. Seitdem die Neurasthenie entdeckt und mit
verblüffender Raschheit eine hochmoderne Krankheit geworden
ist, so dass wir ihr oft genug bei der Jugend und ich muss leider
sagen bei unserer akademischen Jugend begegnen, verfallen gar-
nicht selten die Gichtkranken bei analogen Symptomen dem
Schicksal, dass sie für Neurastheniker gewöhnlichen Schlages —
d. h. für solche, welche die Insuffizienz ihres Nervensystems selbst
verschuldet haben — gehalten werden. Ich habe daher auf dem
achten medizinischen Kongress, 1889, und zwar auch damals
anschliessend an das Beispiel von Berzelius den Satz vertreten,
dass ich auf Grund meiner Beobachtungen einen nicht geringen
Bruchteil von sogenannten Neurasthenikern für gichtkranke
Menschen halte, und Lange (Kopenhagen) hat in einem be-
sonderen Büchlein: „Periodische Depressionszustände
und ihre Pathologie auf dem Boden der harnsauren
Diathese“ (deutsch von Kurelia 1896) diese bösen Krankheits-
symptome zum Gegenstände einer genaueren Besprechung gemacht.
Berzelius ist ein typisches Beispiel dafür gewesen. Die Diagnose
der Gicht hat in seinem Falle angesichts der damit vergesell-
schafteten vielen typischen Anfälle — obwohl ich Tophi gichti-
scher Natur nicht erwähnt finde — keine Schwierigkeiten ge-
macht. Berzelius hatte aber auch andere nervöse Zufälle,
welche nicht wohl als rein funktionelle Störungen gedeutet wer-
den können. Ich verweise auf den auf S. 18 u. 19 geschilderten Zu-
stand von transitorischer Amrfesie, wobei das Vermögen
zu sprechen so gut erhalten blieb, dass — nach Berzelius’ Mit-
teilung — der König, bei welchem er gerade Audienz hatte,
nichts von dem Zustande gemerkt habe. Bei dem im Briefe von
Berzelius an Wöhler vom 1. Februar 1839 (vgl. oben S. 14)
erwähnten heftigen Schmerzanfall dürfte es sich wohl um eine
40
Leber ko lik gehandelt haben. Typische Gichtanfälle und traurige
Gemütsverfassung scheinen aber keineswegs immer bei Berzelius
Hand in Hand gegangen zu sein. Wie häufig aber die Gicht in den
Gelenken Berzelius heimsuchte, geht aus den im zweiten Kapitel
der vorliegenden Arbeit mitgeteilten Briefexzerpten zur Genüge her-
vor. Ich brauche diesen Punkt nicht weiter zu exemplifizieren. Die
Podagraanfälle waren übrigens allein gelegentlich imstande Ber-
zelius zur Untätigkeit zu verurteilen und ans Sofa zu fesseln,
und alternierend quälten ihn neben „steifen Knien“ auch Diar-
rhöen (s. S. 7). Dass der Magen manchmal nicht so funktionierte,
wie er sollte, findet sich im Briefe vom 16. Juli 1835 f., s. S. 11.
Andere bemerkenswerte Notizen über die Verdauungstätigkeit
Berzelius’ fehlen. Ebensowenig erfahren wir aus den mir zu Ge-
bote stehenden brieflichen Mitteilungen etwas über die Herz-
tätigkeit und die Beschaffenheit des Urins, abgesehen von den
bereits gemachten Angaben, in welchen sich der Kranke als
„Harnsäurefabrikant“ bezeichnet. Die in dem Briefe vom 3. Au-
gust 1847 (vgl. S. 22) erwähnte, anscheinend plötzlich aufgetretene
sehr heftige Affektion des Mastdarmes und der Harnwege, welche
anfangs für das Symptom eines Blasensteines gehalten zu sein
scheint, dürfte — das gilt vielleicht auch von den in dem Briefe
vom 2. Juli 1847 erwähnten Fieberanfällen — vielleicht schon
von der Rückenmarksaffektion abhängig gewesen sein, welche
den Tod des grossen Gelehrten herbeiführte. Bevor ich der Frage
näher trete, ob diese Affektion des Rückenmarks, bei welcher es
sich um eine schwere Schädigung dieses Organs gehandelt hat,
auch gichtischer Natur war, erscheint es mir zweckmässig einige
Bemerkungen über die gichtischen Affektionen der Medulla spi-
nalis überhaupt vorauszuschicken. Es kann darüber füglich kein
Zweifel bestehen, dass manchmal, wenn auch, wie mir scheint,
nicht gerade oft im Verlaufe der Gicht spinale Symptomenkom-
plexe auf treten. Ob und inwieweit sie mit der Gicht in kausalem
Zusammenhänge stehen, ist eine weitere Frage. Betrachten wir zu-
nächst die in Rede stehenden Prozesse, so kann man sie in solche
unterscheiden, welchen kein irreparables pathologisch anatomisches
Substrat zugrunde liegt, und in solche, bei welchen man ein solches
41
anzunehmen berechtigt ist, bzw. bei der Sektion gefunden bat. Zu
der ersteren Art geboren drei von A. B. Garrod (1. c. S. 517) mit-
geteilte Beobachtungen, bei deren einer er eine stärkere, bei den
beiden andern eine geringfügigere Affektion des Rückenmarks an-
nahm. In dem ersteren dieser Fälle bestand Schmerz und Empfind-
lichkeit in der oberen Taille des Lendenteils der Wirbelsäule,
grosse Schmerzen und Hyperästhesie in den Beinen, sowie daneben
ausserordentliche allgemeine Depression. Während dieser einige
Wochen dauernden Symptome stellten sich übrigens von Zeit zu
Zeit mässig starke Gichtanfälle in den grossen Zehen ein. Der
Ausgang war in diesem, ebenso wie in den beiden anderen leich-
teren B^ällen, ein günstiger. In den beiden letzteren Fällen nahm
Garrod eine wahre gichtische Entzündung des Rückenmarks, in
dem ersten eine gichtische Entzündung der Rückenmarkshäute
an. Was die zweite Kategorie von gichtischen Rückenmarks-
affektionen im Verlaufe der Gicht anlangt, so begegnen wir da-
bei Fällen von Myelomalacie. Die ersten derartigen Beobach-
tungen dürfte, wie er selbst angibt, R. J. Graves in seinem
System of clinical medicine (Dublin 1843, S. 589 und seq.) ge-
macht haben. Bei dem ersten dieser Fälle, welcher von Williams
seziert worden ist, wurde ein normaler Hirnbefund konstatiert,
das Rückenmark war in der Höhe des letzten Hals- und des
ersten Brustwirbels erweicht und hatte die Konsistenz eines
dicken Rahmes, der übrige Teil des Rückenmarks war gleichfalls
weicher als normal, zeigte aber sonst nichts Abnormes. Bei dem
zweiten Falle wurde das Gehirn, abgesehen von einem leichten
Erguss unter die Arachnoidea und in den vierten Ventrikel,
gleichfalls normal gefunden, aber das Rückenmark war vom
vierten Halswirbel an bis zu seinem unteren Ende breiig er-
weicht und hatte eine aschgraue Farbe. Auf den durch das
Rückenmark gemachten Querschnitten wurden an denselben ver-
schiedene Farbennüancierungen beobachtet. In der Höhe des
dritten Rückenwirbels überwog eine schwärzliche und von da
eine gelblichweisse BArbung. An den Wirbelbögen fanden sich
in der Höhe des vierten Rückenwirbels zwei kleine Tumoren von
der Grösse einer Lambertusnuss angeheftet, welche der Obduzent
42
Adams als wahrscheinlich lediglich zufällige Komplikationen be-
zeichn ete. Genaueres über diese Tumoren ist leider nicht ange-
geben. Uebrigens gibt Graves an, dass die gichtische Entzün-
dung der Nerven und ihres Neurilemms im Laufe der Zeit sich
auch auf das Rückenmark und seine Häute fortsetzen und zu
einer Erkrankung des letzteren Veranlassung geben kann, welche
zur Erweichung und zu dem Untergange der Struktur der Me-
dulla spinalis führt.
Ob im Verlaufe der Gicht auch sklerotische oder sonstige
chronische Prozesse im Rückenmark sich entwickeln, weiss ich
nicht. Jedenfalls dürften sie nur recht seltene Vorkommnisse
sein. J. Cornillon hat im Progres medical (Tome XI, 1883,
No. 21, S. 405) über Amyotrophien berichtet, welche sich bei
einem an Gicht leidenden 55jährigen Manne im Gefolge von zwei
akuten Gichtanfällen einstellten und welche zunächst eine pro-
gressive Muskelatrophie vortäuschten. Jedoch gelangte der dieser
Annahme anfänglich zuneigende Beobachter zu dem Schluss, dass
die bei dem betreffenden Kranken konstatierte Atrophie der Mm.
interossei , der Muskulatur des Daumen- und des Kleinfinger-
ballens, die Schwächung der Muskulatur der Fingerstrecker und
die Klauenhand, die Abplattung der Schultermuskeln die Folge
einer entzündlichen Affektion der Hand- und der Schultergelenke
seien. Ueber das weitere Schicksal des Mannes liegt nur eine Mit-
teilung vor. Derselbe schreibt nämlich etwa ein halbes Jahr später,
dass er seine oberen Extremitäten besser gebrauchen könne.
Frägt man nun, ob die soeben berichteten Fälle von Rücken-
markserweichung als gichtische zu bezeichnen sind , so muss
man zunächst aussagen, dass bei den zur Autopsie gekommenen
Fällen von Myelomalacie von typischen Harnsäureablagerungen
in den erkrankten Teilen nichts angegeben ist. Ren du hatte mit-
geteilt, dass solche bei Gehirnerweichungen beobachtet worden
seien. Als Beweis dafür, dass Erweichungsherde im Gehirn harn-
säurehaltig sein können, wird von Ren du (Art. Goutte, Seite 40 in
Dechambres Dict. enycl. des st. medic.) eine Beobachtung; welche
von Norman Moore (Brit. med. Journ. 1881, Dezember, S. 938)
herrührt, angeführt, welche dieser bei der Autopsie eines Gicht-
43
kranken gemacht hat. Der Befund hätte insbesondere deswegen
nichts Befremdliches, da Cornil bei der mikroskopischen Unter-
suchung von Cerebrospinalflüssigkeit Kristalle von harnsaurem
Natron beobachtet hat. Indessen ist das Zitat von Ren du —
welchem wir auch bei Legendre (Goutte im Traite de med.
von Charcot, Bouchard et Brissaud T. I, S. 492, Paris 1892)
begegnen — nicht zutreffend; nämlich bei der Beobachtung von
Norman Moore (1. c.) fand sich in dem betreffenden Falle, bei
einem Bleiarbeiter, welcher mehrfach Gichtanfälle gehabt hatte,
unter anderem eine weisse Platte in der Pia der linken Klein-
hirnhemisphäre. Die von mir angeführten Beobachtungen von
Rückenmarkserweichung sind die einzigen, welche ich finden
konnte und welche einige Menschenalter zurückliegen. Bei ihnen
ist ein Gehalt an Uraten nicht angegeben. Bei dem viel zitierten
Falle von Ollivier (Arch. de physiol. 2. serie, T. V, S. 455, 1878)
handelte es sich bei dem 45jährigen Gichtkranken mit spinalen
Symptomen nicht um Uratablagerungen im Rückenmark selbst,
sondern lediglich um Uratablagerungen, welche den grössten
Teil der Aussenfläche der Dura mater spinalis einnahmen und
welche sich auf die Nervenscheiden der allermeisten Wurzeln der
Rückenmarksnerven fortsetzten.
Auch Le cor che ist in seinem sorgsamen Traite de la
goutte (Paris 1884, S. 118 und 338), in welchem der goutte me-
dollaire ein kurzer besonderer Abschnitt gewidmet ist, über die
Ansicht des ebenso weitschauenden und erfahrungsreichen, wie
mit der einschlägigen Literatur wohlvertrauten Charcot (Oeuvres
completes YII, Paris 1890, S. 101) nicht herausgekommen.
Charcot bezeichnet mit Recht den Einfluss der Gicht auf die
Krankheiten des Rückenmarks noch als eine Streitfrage, und ohne
sich in weitläufigeren Diskussionen über diesen Gegenstand zu
ergehen, muss man Charcot auch heute noch vollkommen bei-
stimmen. Ich will von vornherein bemerken, dass auch die bei
Berzelius während des Lebens diagnostizierte Rückenmarks-
affektioii, welche durch die Autopsie lediglich bestätigt wurde,
uns in der definitiven Lösung der Frage nicht weiter gebracht hat.
Jedenfalls gehörte die Rückenmarkskrankheit von Berzelius nicht
44
zu den akut verlaufenden, sie hat ungefähr ein Jahr gedauert.
Vorübergehende Besserungen beziehen sich doch lediglich auf den
zeitweisen Nachlass der Schmerzen, welcher wohl sicher teils
mit den interkurrenten Gichtanfällen, teils aber auch mit dem
spinalen Prozess selbst in Beziehung gestanden haben dürfte.
Die Sektion ergab, abgesehen von einer Veränderung des Rücken-
marks, nichts besonderes. Retzius, der Arzt von Berzelius, schil-
dert die Veränderungen der Medulla spinalis folgendermassen :
Vor dem neunten Rückenwirbel drang ein Fleck auf dem Rücken-
mark, eine sogenannte rote Erweichung, von einem Zoll Länge
in die Tiefe bis zu dem Zentrum, ging aber nicht auf die an-
deren Stränge über. Vergleichen wir die Symptome während
des Lebens mit der angegebenen Art und Ausdehnung der Zer-
störung, so muss a priori angenommen werden, -dass dieselbe
doch so viel von dem Querschnitt des Rückenmarks vernichtet
haben muss, um die ausgedehnte Paraplegie u. s. w. herbeizu-
führen. Ich meine, dass es sich bei Berzelius wohl um einen
Krankheitsprozess gehandelt haben dürfte, welcher von J. Fr. H.
Albers in seinen „Beobachtungen auf dem Gebiete der
Pathologie und pathologischen Anatomie“ (Bonn 1836,
I. Teil, S. 73 ff.) als zentrale Erweichung des Rücken-
marks geschildert worden ist und zwar um diejenige Form
dieser Krankheit, bei welcher die Krankheitssymptome langsam
erscheinen und so versteckt beginnen, dass die Kranken kaum
ihre ersten Anfänge bemerken. In dieser Form vergehen bis-
weilen Jahre, bevor sich die Lähmung der Gliedmassen vollkom-
men ausgebildet hat. Albers erwähnt als entferntere Veranlas-
sungen zu dieser dem 40. bis 50. Lebensjahre ’ eigenen Krank-
heit Onanie, Ausschweifungen, Krätze, Erkältungen. Es ist dies
fürwahr eine seltsame Zusammenstellung. Jedenfalls nehmen
auch unsere modernen Darstellungen der Myelitis von dieser oder
einer anderen Myelitisform als einer mit der Arthritis uratica in
ursächlichem Zusammenhänge stehenden Erkrankung im allge-
meinen keine Notiz. H. Obersteiner und E. Redlich führen
in meinem und Schwalbes Handbuch der praktischen Me-
dizin (Bd. IV, S. 447, Stuttgart 1900) die Gicht unter den ätio-
45
logischen Momenten der chronischen Myelitis auf, wobei sich
aber diese Autoren bei der anatomischen Charakterisierung der
hier in Betracht zu ziehenden Krankheitszustände einer wohl-
berechtigten Zurückhaltung befleissigen. Dass aber in derlei Er-
weichungs-, bzw. Entzündungsherden des Rückenmarks die Harn-
säure eine Rolle gespielt hat, ist weder in dem B er zelius sehen
Falle gesagt, noch ist es mir betreffs anderer Fälle von sogen,
zentraler Myelomalacie bekannt geworden. So lange diese causa
morbi nicht nachgewiesen ist, wird man füglich von einer direkten
Myelitis arthritica nicht reden dürfen. Immerhin aber kann die
Arthritis uratica insofern als ein prädisponierendes Moment in der
Aetiologie solcher Myelitiden angesehen werden, weil dieselbe zur
Arteriosklerose führt, von der es wohl anzunehmen ist, dass ihr
ein Einfluss bei der Pathogenese dieser Ernährungsstörungen des
Rückenmarks zukommt, ebenso wie dies bei anderen Organen der
Fall ist. Freilich werden wir zugeben müssen, dass — weil bei dem
Falle Berzelius von solchen vaskulären Veränderungen im Rücken-
mark nicht die Rede ist — füglich auch von einer solchen Be-
einflussung des spinalen Prozesses nicht gesprochen werden darf.
Es erübrigt diesen epikritischen Bemerkungen noch einige
Therapie betreffende Notizen hinzuzufügen.
Was die diätetische Behandlung anlangt, so hat Berzelius
am eigenen Leibe (vgl. S. 12 den Brief vom 29. August 1835)
erfahren, dass ihm Schmausereien nicht gut bekamen. Er konnte
sich ihnen aber, wie er schreibt, nicht entziehen. Inwieweit
übrigens Berzelius die Sorge für seine Gesundheit solchen
konventionellen Rücksichten gegenüber in den Vordergrund
stellte, weiss ich nicht zu sagen. Jedenfalls hat er bei seinem
unermüdlichen Pleiss viel gesündigt, indem er, wie er selbst in
seinen biographischen Notizen angibt (s. o. S. 5), den Genuss
frischer Luft und die notwendige Körperbewegung ungebührlich
vernachlässigte. Berzelius war ein Freund von Mineralwasser-
kuren. Er trank auf dem Lande Porlawasser (vgl. den Brief
an Wohl er vom 1. Juli 1836, s. o. S. 13). Dasselbe schlug gut
bei ihm an, er hatte einen vorzüglichen Appetit bekommen, fing
an wieder dick zu werden und kam immer zu dem von ihm so
46
lange vermissten früheren guten Zustande zurück. Berzelius
trank auch Marienbader und Karlsbader Wasser und er
hat sich dem Kate seiner Aerzte folgend im Frühjahr 1845 (s. o.
S. 20, Brief an Wühler vom 19. Juni 1845) nach Karlsbad
begeben in der Hoffnung, dass es ihn völlig herstellen werde.
Obgleich zunächst die Strapazen und die Hitze ihn sehr an-
strengten, hat sich doch baid die Sache zum Besseren gewendet;
„aber, schreibt er: ich lebe exemplarisch nach der Diät“, woraus
sich vielleicht folgern lässt, dass er dies sonst nicht getan habe.
Das Befinden war auch in Karlsbad anscheinend ganz gut.
Wühler berichtet nämlich an Liebig (Liter.-Verz. No. 2,
'S. 255) am 24. Juli 1845: „Berzelius ist in Karlsbad und wird
im nächsten Monat hierher (nach Göttingen) kommen, wenn
sein Befinden so gut fortfährt, wie es jetzt ist.“ Am 16. August
1845 schreibt dann Wühler an Liebig (vgl. Liter.-Verz. No. 1,
S. 258), dass Berzelius ihm geschrieben habe, dass er ungefähr
den 18. August in Göttingen eintreffen werde. Dass diese
Besserung nicht lange vorgehalten hat, das hat der weitere Ver-
lauf gelehrt. Indes war es immerhin sehr erfreulich, dass nicht
nur der nächste Gichtanfall bei Berzelius sehr milde verlief,
sondern dass auch sein gesamtes Allgemeinbefinden sich für
eine gewisse Zeit viel günstiger als vorher gestaltete. Es war
sicher die Aufbesserung des Appetits und der Ernährung nicht
die geringfügigste gute Wirkung, welche der Karlsbader Aufent-
halt zuwege brachte. Von Interesse ist die Art und Weise,
durch welche Berzelius’ Arzt dessen Arthritis melancholica zu
bekämpfen bezw. zu beseitigen suchte, und dass er dies gelegent-
lich auch „wie durch Magie“ erreichte. Dass dies aber nicht
immer durch eine äusserliche ableitende Methode möglich war,
haben wir bereits oben (S. 38) gesehen. Bemerkenswert ist, dass
Berzelius, welcher sich in selbstverspottender Weise als „Fabri-
kant von Harnsäure in schönsten roten Farben“ bezeichnete
(s. o. S. 36), das Mittel nicht angewendet zu haben scheint, von
welchem Wöhler ihm bereits in einem Briefe vom 8. Mai 1826
(1. c. Bd. I, S. 119) ausführliche Mitteilung gemacht hatte. Hier
schreibt Wöhler:
47
„ . . . In Bezug auf meine Urinaria hat mir Gmelin einen Fall mit-
geteilt, der recht für die praktische Anwendung und gute Wirkung der pflanzen-
sauren Alkalien bei Harnsäure-Deposition zu sprechen scheint. Einer seiner
Zuhörer nämlich, dem mit Blasenbeschwerden stets Gries von Harnsäure ab-
ging, nahm zwei Drachmen Cremor tartari , worauf der Gries sogleich auf
5—6 Tage verschwand. Dann stellte er sich wfleder ein, dann nahm er wieder und
so fort schon seit ein und einem halben Jahre, so dass immer gegen zwei Drachmen
Cremor tartari vermögen auf 5 — 8 Tage die Kristallisation der Harnsäure zu ver-
hindern und der Patient hierdurch ein Mittel hat, dass, wenn es auch nur vorder-
hand bloss palliativ wirkt, doch nicht zu verachten ist!“ „Es scheint,“ endet
Wöhler diesen Brief, „demnach am wahrscheinlichsten, dass diese Zersetzung
der Pflanzensäuren durch eine Oxydation bei der Respiration bewirkt werde.“
Auch von der sogen. Erdbeerenkur, durch welche sich nach
W ö h 1 e r s Angabe L i n n e von seiner langdauernden Gicht befreite
(s. o. S.2) und von der gleichfalls von Wöhler (an gleicher Stelle)
erwähnten Kirschenkur — beide mit Rücksicht auf ihren grossen
Reichtum an pflanzensauren Alkalien — scheint Berzelius keinen
systematischen Gebrauch gemacht zu haben. Beiläufig erwähnt er
in seinem Briefe an Wöhler vom 9. Juli 1830 (1. c. Bd. I, S.304), dass
auf dem Lande sein Abendessen aus Erdbeeren und Milch bestehe.
Von grossem Interesse ist die Korrespondenz zwischen Ber-
zelius und Wöhler betreffs einiger die Behandlung der Gicht an-
gehenden Fragen, welche heutzutage auf der Tagesordnung
stehen (s. o. S. 17). Berzelius ventiliert hier die Frage, ob
die Benzoesäure den Gichtanfall aufhebt, indem sie die Harn-
säure auflöst. Einen Versuch in dieser Richtung will er aber
erst dann an seinem eigenen schwachen Leibe machen, nachdem
er erfahren hat, welche Wirkungen die Benzoesäure sonst bei
Menschen hervorbringt. Wöhler betonte darauf die Ungiftigkeit
der Benzoesäure, erklärt es aber für sehr zweifelhaft, dass sie
die Harnsäurebildung vermindere. Hierauf wirft Berzelius die
Frage auf, ob die Spiräasäure (Salizylsäure) etwas entsprechen-
des bewirke? Wöhler entgegnet, dass ein Versuch mit sali-
zyliger Säure noch nicht gemacht sei, die Wirkung müsse aber
erst an Tieren wegen der Giftigkeit der Säure geprüft werden.
Bei dieser Gelegenheit darf auch daran erinnert werden, dass
Berzelius in seinem Briefe an Wöhler vom 9. Mai 1825
(s. deren Briefwechsel I, S. 44) diesem schreibt, dass er bei der
48
Analyse des ihm zugeschickten Egerwassers Lithion angetroffen
und dass er dasselbe auch später im Marienbader und im Karls-
bader Wasser in geringen Quantitäten gefunden habe.
Hiermit glaube ich die erläuternden Bemerkungen zu der
Krankengeschichte von Berzelius abschliessen zu dürfen. B e r-
zelius war ein seit seiner Jugend schon schwer an Gicht kranker
Mann. Sie hat sich stetig verschlimmert. Nach den obigen Dar-
legungen wird von keinem bezweifelt werden können, dass Ber-
zelius zu den wahren Märtyrern der Gicht zu zählen ist, welche
an sein körperliches und geistiges Leben, welche sie beide so oft
und so lange umdüsterte , die grössten Ansprüche gestellt hat.
Der Briefwechsel zwischen Berzelius und Wühler, welcher
den Zeitraum von 1824 — 1848 umfasst, ist es in allererster Reihe,
welcher uns ein getreues Spiegelbild dieses von Berzelius mit
grösster Standhaftigkeit ertragenen Martyriums liefert. Neben
der Beschreibung alles ihn drückenden Leides aber finden sich
in fast jedem Briefe sichere Zeichen dafür, dass der grosse Mann
trotzdem unablässig seine grossen wissenschaftlichen Ziele ver-
folgte. Freilich wird man — und ich werde bald noch darauf
zurückkommen — annehmen müssen, dass diese unablässige
Geistesarbeit seinem Gichtleiden wesentlich Vorschub geleistet hat.
Die Aufopferung für seine Wissenschaft lässt uns die glänzende Per-
sönlichkeit von B erz el i us in nur noch hellerem Lichte erscheinen.
II. Einige Bemerkungen über die Gicht verschiedener
anderer hervorragender Persönlichkeiten.
Dass die zahlreichen historischen Persönlichkeiten, welche
als gichtkrank von ihren Zeitgenossen angesehen worden sind,
auch wirklich an der typischen Gicht, der Arthritis uratica ge-
litten haben, muss bezweifelt werden. Da dieselben aber viel-
fach nicht nur in medizinischen, sondern insbesondere auch in
historischen Werken als solche immer noch geschildert werden
und ihr körperliches Leiden ohne Vorbehalt als Podagra u. s. w.
bezeichnet wird, so mögen einige Bemerkungen in dieser
Richtung hier nicht unangebracht sein. In dem bekannten
49
interessanten Büchlein: Medizinisches aus der Weltgeschichte,
Buntes Allerlei von Hermann Vierordt (Tübingen, ohne Jahres-
zahl, stammt, wie aus der Widmung ersichtlich ist, aus dem Jahre
1893) wird auf S. 41—44 über Fälle berichtet, welche beweisen
sollen, dass die Gicht und ihre Gefolgschaft ein häufiger Genosse
berühmter Persönlichkeiten sind. Dass dieser Satz richtig ist, darf
und soll nicht bestritten werden. Ob aber die von Yierordt
aufgezählten Persönlichkeiten, welche fast sämtlich in einer recht
weit zurückliegenden Zeit gelebt haben und von deren Leiden
uns teils nur das nomen morbi oder auch einzelne vielen anderen
Krankheitszuständen gemeinsame Symptome überliefert worden
sind, wirklich an der wahren Gicht gelitten haben, ist eine andere
Frage. Am meisten dürften die chronischen Rheumatismen Ver-
anlassung zur Verwechselung mit der Gicht geben. Die Angabe
Vierordts, dass die berichtete „dispositio articulorum dolorosa“
des Prinzen Gaston kaum anders als eine „gichtische“ aufzufassen
sei, erscheint mir also ebenso zweifelhaft, wie die übrigen von
Vierordt angeführten Beispiele einschliesslich der Gicht Luthers.
Bewiesen ist bei ihm nur das Nierensteinleiden durch den Abgang
eines Nierensteins. Es ist unter diesen Umständen gewiss auch wohl
möglich, dass seine gichtischen und rheumatischen Beschwerden
als wahre Gicht anzusehen sind, aber ein strikter Beweis ist damit
doch sicher nicht geliefert. Das gilt übrigens auch von dem von
mir in der Einleitung zitierten Fall, welcher den schwedischen
Feldherrn Torstenson betrifft. Ich habe mich deshalb oben (S. 3)
auch sehr zurückhaltend ausgesprochen. In gleicher Weise scheinen
mir folgende Angaben in gangbaren Schulbüchern aufzufassen.
Kohlrausch gibt an, dass Wallenstein, welcher sich wegen
seiner schmerzhaften Fussgicht in einer Sänfte tragen lassen
musste, in der Schlacht von Lützen zum Rückzug blasen liess.
H. W. St oll (Erzählungen aus der Geschichte, 2. Auf!., 4. Bänd-
chen, Leipzig 1879, S. 87) berichtet ferner über Wallenstein,
dass er wegen seines Podagras die Einladung (zu einem Fast-
nachtschmause in der Burg) ausgeschlagen habe, und deshalb
beschloss man, ihn in seiner Wohnung zu ermorden. Stoll
(ebenda S. 57 und 59) erzählt ferner, dass Karl V im Kriege
Ebstein, Die Gicht des Jacob Berzelius. 4
50
gegen den Kurfürsten Moritz von Sachsen in Innsbruck (1552)
krank am Podagra lag , wodurch er fast der Gefangene des
letzteren geworden wäre. Ueberdies wird hier berichtet, dass
Karl in seinem Alter durch schmerzhaftes Podagra heimgesucht
war. Otto Lange teilt in seinem Leitfaden zur allgemeinen
Geschichte (8. 'Aufl., Berlin 1865, S. 75) mit, dass Kolumbus
mit Augen- und Gichtkrankheit zu kämpfen hatte. Interessant
sind die Angaben über des berühmten Malers P. P. Rubens
(geb. 1577, gest. 1640), Gicht, welche ich dem Werke von
Emile Michel, Rubens, sa vie, son oeuvre et son temps
(Paris 1900) entnehme. Zunächst wird (1. c. S. 307, 308, 309
und 311) die Massigkeit und die Einfachheit von Rubens in
allen seinen Lebensgewohnheiten geschildert. „II vivait de
maniere ä pouvoir travailler facilement et sans incommoder sa
sante.“ Er ass zum Diner sehr wenig, konnte nachher sofort den
Pinsel in die Hand nehmen und bis nachmittags 5 Uhr in
seinem Atelier bleiben, nachher machte er einen Spazierritt auf
einem schönen spanischen Pferde. Als er sein 60. Lebensjahr
überschritten hatte, wird von der durch die Gicht bewirkten
Kontraktur der Endglieder seiner Finger gesprochen. Es sei
hier die 1. c. S. 558 von seiner Persönlichkeit entworfene Schilderung
kurz reproduziert: „II a cette fois depasse la soixantaine — —
la figure tres noblement posee a encore grande tournure — - — .
La prestance est belle, le teint est reste vermeil ; il a cependant
un peu päli, et les yeux toujours bienveillants et fins ont perdu
leur vivacite; leur regard n’est pas sans quelque tristesse. La
peau aussi s’est detendue et comme amollie; le nez s’est affine,
la main nue, appuyee sur la garde de la rapiere, ä l’extremite
de ses doigts deformee par les contractions de la goutte. La
physiognomie — — est celle d’un homme qui a beaucoup souf-
fert — — . Parfois cependant les souffrances ou la fatigue deve-
nant excessives — — .“ Die Geschichte der Gicht des grossen
Künstlers setzt 1. c. auf S. 562 wieder ein. Hier heisst es: „Les
courts moments de repit que laissait la goutte ä Rubens — — ,
les lettres de l’archiduc Ferdinand ä son frere nous apprennent
que ces moments devenaient de plus en plus rares. Le 10. Jan-
51
vier 1640, repondant de Bruxelles au roi, il lui annonce „qu’une
nouvelle atteinte de goutte a empeche Rubens de travailler — “
„ — — — — l’etat du maitre s’aggravait toujours, et le 5. Avril
suivant, l’archiduc devait encore expliquer a son frere : „ — —
Rubens etant perclus des mains depuis plus dun mois — — .“
Pendant ce temps le pauvre maitre se debat contre des dou-
leurs de plus en plus vives. Der Zustand wurde immer schlimmer
einer seiner geschwollenen Schenkel wurde in den letzten
Lebenstagen, wie nach der betreffenden Bäderrechnung anzu-
nehmen ist, skarifiziert. Rubens starb am 30. Mai 1640 im
Alter von 63 Jahren und 11 Monaten. Nach diesen Schilderungen
der wiederkehrenden qualvollen Anfälle, der Verkrümmung der
Finger, der heftigen Schmerzen, darf es allerdings wohl als
ziemlich wahrscheinlich angesehen werden, dass die Krankheit,
welche schliesslich mit Wassersucht geendet zu haben scheint,
und welche als „Goutte“ bezeichnet wird, in der Tat wirklich die
Gicht gewesen ist. Dagegen lässt sich mit einer an Gewissheit
grenzenden Wahrscheinlichkeit behaupten, dass es sich bei der
Krankheit von A. G. Kästner, geboren 1719 und gestorben
als Professor der Mathematik und Physik in Göttingen 1800,
um die Gicht gehandelt hat. In der in der Allgemeinen Deut-
schen Biographie Bd. XV (1882), befindlichen, von Cantor und
Minor verfassten Lebensbeschreibung lesen wir darüber folgen-
des: „Wir können nur beifügen, dass seit Ende September 1799
Kästner von heftigem Gichtleiden im rechten Arm gequält war.“
Am 24. April 1800 schrieb er darüber an Frau v. Zach (Monatl.
Korrespondenz zur Beförderung der Erd- und Himmelskunde
vom Juli 1800, Bd. II, S. 118): „Ich muss die ganze Nacht auf
dem Rücken liegen und das in starkem Schweiss; das mattet
mich sehr ab. Sonst fühle ich innerlich keine Krankheit, auch
keinen Mangel an Gemütskräften, nur lässt sich freilich bei be-
ständigen Schmerzen nicht wohl etwas Schweres ausarbeiten.“
Im Juni wurde die rechte Hand ganz lahm und unbrauchbar,
welches seine ihm stets eigene Heiterkeit störte. Er entschlief
sanft und ruhig am 20. Juni im Alter von 79 Jahren, 8 Monaten
und 23 Tagen.“ — Jedenfalls hat es sich nach der vorstehenden
52 —
Schilderung bei der terminalen Krankheit Kästners um keine
typische Arthritis uratica gehandelt, das „heftige Gichtleiden im
rechten Arm“ kann auf viele andere Ursache zurückgeführt
werden. Indessen sollte man doch annehmen, dass Kästner
selbst und seine Göttinger Aerzte mit der Gicht Bescheid ge-
wusst haben. Insbesondere aber dürfte dafür, dass Kästner
die wahre Gicht gehabt hat, folgendes von ihm verfasstes und die
Ueberschrift : „Ursachen, warum die Dichter vom Po-
dagra frei sind“ tragendes Epigramm sprechen, worin er
keinen anderen als sich selbst zu verspotten scheint:
„Das Schmerzenskind von Bacchus und Cytheren,
Wie kommt’s, dass es die Dichter plagt,
Die so getreu dies Götterpaar verehren?
Mir hat den Grund ein Dichter jüngst gesagt:
Wir leben nicht an dieser Krankheit Jahre,
Uns legt zuvor der Hunger auf die Bahre.“
(A. G. Kästner, gesammelte poet. undpros. Werke, I, S. 15. Berlin 1841.)
Ich schliesse hieran einige Bemerkungen über die gichtische
Erkrankung Ludwig Tiecks und lege ihnen die Schilderung
zugrunde, welche Gotthold Klee in seiner Biographie des
Dichters (Deutsche Volksbücher, Leipzig und Wien 1028/29) ge-
geben hat: „Der 27jährige Tieck war gesund an Leib und Seele.
Aber er mutete sich zu viel zu; rastlose geistige Arbeiten und
Nachtwachen, Spazierritte und andere körperliche Anstrengungen
zogen ihm eine Krankheit zu, den Vorboten eines Leidens, das
ihm Jugendkraft und Gesundheit für immer raubte. Es war
ein Rheumatismus, der sich zuerst als Gicht im Knie zeigte und
eine langwierige Kur nötig machte. Den ganzen Winter 1799 bis
1800 hindurch sah sich Tieck ans Zimmer gefesselt und an allen
Arbeiten verhindert. Erst der Frühling brachte ihm Heilung
und erwachende Arbeitslust“ (1. c. S. 59 und 60). Im Anfang
des Jahres 1805 und wohl auch schon Ende 1804 wurde Tieck
heimgesucht von seinem alten bösen Leiden, der Gicht; schon
diesmal schien es ihm das Leben kosten zu sollen, er litt die
unsäglichsten Schmerzen und war des Gebrauchs seiner Glieder
beraubt (1. c. S. 67). Indes er genas und reiste im Sommer 1805
über Tirol, Verona, Mantua, Florenz nach Rom. Die erste Zeit
53
dieses römischen Aufenthalts wurde dem Dichter noch sehr
durch gichtische Schmerzen verbittert. Erst ganz allmählich
trat eine Besserung ein (1. c. S. 68). Im Jahre 1811 machte
Tieck eine Badekur in Warmbrunn. Im Sommer 1817 fand
Schlegel seinen alten Kampfgenossen Tieck nicht nur körper-
lich von der Gicht sehr verändert, „krumm und sechseckig“,
sondern auch „sehr materiell“ im Geist. Am 18. Mai 1818 schreibt
Tieck an Solger1): „ die Gicht quält mich übermässig,
sie ist in die rechte Hand gestiegen und hindert mich auch sehr
am Schreiben in einem weiteren Briefe vom 15. Februar
1819 an Solger klagt Tieck über seine „ununterbrochenen
Schmerzen“, über die „stete Unfähigkeit, seinen Körper frei zu
gebrauchen , über die unzähligen Hemmungen seiner Körper-
und Seelenkraft“. Auch aus dem Jahre 1841 werden schmerz-
volle Anfälle der unseligen Gicht, welche Tieck heimsuchten,
gemeldet (1. c. S. 92). Im März 1851 verfiel er in eine schwere
Krankheit; noch einmal siegte das Leben, aber er verliess sein
Zimmer seitdem nicht mehr. — Am 28. April 1853 starb Tieck
sanft einen Monat vor seinem 80. Geburtstage. Es dürfte
keinem Zweifel unterliegen, dass Tieck an wahrer Gicht ge-
litten hat2).
Zum Schluss mögen einige kurze Ausführungen über die
Gicht zweier Geistesheroen des 18. Jahrhunderts, welche den
grössten Männern aller Zeiten zuzuzählen sind, hier angeführt
werden: nämlich über die Gicht Friedrichs des Grossen und
Goethes.
Die Gicht Friedrichs des Grossen war ein Erbteil, welches
er von seinem Vater, Friedrich Wilhelm I, überkommen haben
mag. Franz Kugle r schreibt in seiner bekannten Geschichte
Friedrichs des Grossen (Volksausgabe, 3. Aufl., Leipzig 1888, S. 34),
0 S o 1 g e r s nachgelassene Schriften und Briefwechsel. Herausgegeben
von L. Tieck und Fr. von Raumer. Bd. I. Leipzig 1826. Hier finden sich
ausser den oben angegebenen noch mehrere Tiecks Gicht betreffende Stellen.
2) Vgl. Köpke, R. Ludwig Tieck, 2. Teil, Leipzig 1855, S. 36 und
Bernhardi, W. , Ludwig Tieck im 38. Bande der Allgemeinen Deutschen
Biographie. Leipzig 1894, S. 251 — 276.
54
dass Anfälle von Podagra die gereizte Stimmung von Friedrich
des Grossen Vater vermehrt haben. Was aber Friedrichs des
Grossen Gicht betrifft, so finden wir bei Kugler (1. c. S. 411)
einen Brief Friedrichs des Grossen an einen Freund aus dem
Jahre 1780 abgedruckt, in welchem es heisst:
„Was meine Gesundheit betrifft, so werden Sie natürlicherweise selbst
vermuten, dass ich bei 68 Jahren die Schwachheit des Alters empfinde. Bald
belustigt sich das Podagra, bald das Hüftweh und bald ein eintägiges Fieber
auf Kosten meines Daseins, und sie bereiten mich vor, das abgenutzte Futteral
meiner Seele zu verlassen.“
M am lock hat dann in seinem, auf Grund von vorher nicht
benutzten Quellen abgefassten Büchlein „Friedrichs des Grossen
Beziehungen zur Medizin (Berlin 1902)“ auch dessen bereits in
früher Jugend geschädigtem Gesundheitszustand einen breiteren
Baum gewidmet. An einem, zum erstenmal in besonders heftiger
Form auftretenden fieberhaften Podagraanfall erkrankte Friedrich
— und zwar, wie er selbst sagt, vorzeitig — bereits im Alter von
erst 34 Jahren im Jahre 1746 in Pyrmont. Die Pathogenese des-
selben dachte er sich, wie er in einem Briefe schreibt, folgender-
massen :
„J’avais une obstruction dans le mesentere, et eile s’est convertie en
goutte.“
Nichtsdestoweniger hat er das Pyrmonter Wasser gegen
„gichtische Krämpfe“ wiederholt empfohlen. Uebrigens hatten
sich, wie Mamlock in seinem auf dem Baineologenkongress in
Aachen (1904) gehaltenen Vortrage über Friedrichs des Grossen
Badeaufenthalt in Aachen erwähnt, bei Friedrich bereits damals,
als er sich kurz nach der Beendigung des ersten schlesischen
Krieges auf den dringenden Bat seiner Aerzte am 20. August
1742 zur Kur nach Aachen begab, die ersten Zeichen der Gicht
bemerkbar gemacht. Friedrich sagte selbst, er wolle die unver-
besserliche Tätigkeit seiner Verdauungsorgane verbessern und
sich von den fortwährenden Magenstörungen, an welchen er schon
von Jugend auf litt, kurieren. Die Aachener Aerzte verordneten
ihm, was Friedrich sehr übel aufnahm, mit vollem Becht, dass
er sich jeglicher geistigen Tätigkeit enthalten solle. Der eben
beendete Krieg hatte seine Gesundheit sehr erschüttert und auch
55
während des siebenjährigen Krieges blieben die Gicht und die
Hämorrhoiden seine alten Quälgeister, seine unheimlichen Be-
gleiter. Er selbst schreibt 1760 über sich an Voltaire:
„Wenn Sie mich sehen, würden Sie mich kaum wiedererkennen, ich bin
alt, gebrochen, grau, runzelig, ich verliere die Zähne und die Heiterkeit.“
Auch Friedrich der Grosse war ohne jeden Zweifel ein wirk-
licher Märtyrer der Gicht. Er starb am 17. August 1786 an einem
Stickfluss, nachdem sich allgemeine Wassersucht eingestellt hatte.
In weitere Einzelheiten will ich nicht eingehen. Wir finden
*
solche auch in Chr. G. Seiles Krankengeschichte des Höchst-
seligen Königs von Preussen Friedrich des Zweiten Majestät
(Berlin 1786). Wir erfahren daraus auch, dass auf den Wunsch
Friedrichs, welcher „von jeher sehr schamhaft gewesen und öfter
die Abneigung gegen die Oeffnung und Balsamierung der Leich-
name bezeugt“, solche auch bei ihm unterblieben seien. Nur
um „der schnellen Auflösung zuvorzukommen“, wurde sowohl
aus der Bauchhöhle als auch aus dem Unterhautbindegewebe
der Beine eine grössere Menge Flüssigkeit entleert. Interessant
sind und verdienen auch heute noch beherzigt zu werden die
Worte, welche Friedrich an einen Chemiker Lardy 1775 richtete,
welcher ihm eine Probe eines Mittels gegen die Gicht gesendet
hatte. Friedrich schrieb ihm : „Ich danke vor der Kur und lasse
die Natur walten“, und an Algarotti richtete Friedrich die
Worte: „Die Chemiker erfinden dergleichen; wenn sie zuerst er-
scheinen, hat man starken Glauben daran, allein die Freude da-
mit währt nicht lange.“ Es wäre indes nicht billig, dieses Ur-
teil Friedrichs auf alle Bestrebungen unserer modernen Chemiker
in therapeutischer Beziehung zu übertragen. Beherzigenswert
bleiben sie immer, besonders wenn wir sehen, wie viel Spreu
unter dem Weizen sich einzunisten versucht und zwar in der
Regel mit recht niedrigen und verächtlichen Mitteln. Jedem
Aberglauben und jeder Charlatanerie abhold, und obwohl er den
Wert der Diät und der Körperbewegung für Gichtkranke aner-
kannte, ist Friedrichs eigene Lebensweise durchaus in dieser Be-
ziehung nicht vorbildlich zu nehmen. Manche interessante Einzel-
heiten über Friedrichs des Grossen diätetische Sünden und die
56
von ihm bevorzugten Heilmittel finden wir bei Mamlock ver-
zeichnet, und alle die, welche sich dafür interessieren, mögen
darauf verwiesen werden.
Ich wende mich jetzt zu der Gicht Goethes. Bevor ich
in die Betrachtung derselben eintrete, möchte ich zunächst eine
allgemeine Bemerkung vorausschicken. Es ist mir vielfach auf-
fällig erschienen, dass, wie mir scheint, in einer stiefmütterlichen
Weise in sonst recht ausführlichen Lebensbeschreibungen grosser
Männer deren Krankheitszustände abgehandelt werden. Es ist
dies in mehr als einer Richtung verfehlt. Es gehört dies nicht
nur zur Sache, sondern es lassen sich sogar eine ganze Reihe
von geistigen Eigenschaften der betreffenden Persönlichkeiten,
welche sonst teilweise oder sogar völlig dunkel bleiben, lediglich
an der Hand der körperlichen Zustände dieser Individuen in
befriedigender Weise erklären. Schon die Jugendkrankheiten
Goethes, worüber in des ersten Teiles erstem Buche von „Wahr-
heit und Dichtung“, u. a. über seine schwere Pockenkrankheit
berichtet wird, haben in Goethes Betrachtungsweise des Lebens
einen Schatten zurückgelassen, — und so erfuhr ich früh-
zeitig,“ schreibt er, „dass uns die Menschen für das Vergnügen,
welches wir ihnen gewährt haben, sehr oft empfindlich büssen
lassen.“ Goethe hatte in seiner Jugend viel an Krankheiten
zu leiden. Er sagt 1. c. : „Weder von Masern und Windblattern
und wie die Quälgeister der Jugend heissen mögen, blieb ich
verschont, und jedesmal versicherte man mir, es wäre ein Glück,
dass dieses Uebel nun für immer vorüber sei; aber leider drohte
schon wieder ein anderes im Hintergründe und rückte heran.“
Diese Zitate sollen nicht mehr und nicht weniger besagen, als
dass vielleicht schon dieses Ueberstehen von zahlreichen Krank-
heiten im Kindesalter in Goethes starkem Empfinden einen
Stachel gegen die Menschen und gegen sein Schicksal zurück-
gelassen hat, welcher sich in der unverkennbaren Bitterkeit dieser
Worte kundgibt. Welchen Einfluss solche Erfahrungen aus der
Kindheit auf Goethes weitere Lebensanschauungen ausgeübt
haben, soll hier indes nicht untersucht werden. Ueber weitere
Krankheitszustände Goethes und deren Einfluss in der ange-
57
gebenen Richtung berichtet Bielschowsky in seiner mit Recht
so hoch geschätzten Lebensbeschreibung (I. Bd., München 1902,
S. 90 und 93 und II. Bd., München 1904, S. 244 und 512), ist
aber meines Erachtens etwas zu kursorisch hinweggegangen und
hat daher, so weit ich wenigstens die Sache übersehe, die Folge-
zustände von Goethes somatischen Verhältnissen auf sein Ge-
müts- und Geistesleben nicht so gewürdigt, wie es nach meinem
Empfinden vom Standpunkt eines mit der menschlichen Natur
leidlich vertrauten Arztes gewünscht und erwartet wird. Biel-
schowsky erörtert die Brustaffektion und den Blutsturz Goe-
thes und deren Ursachen, welch letzteren er als eine heftige
Reaktion gegen eine verkehrte Lebensweise ansieht. Hierzu
rechnet Bielschowsky eine falsche Diät, das schwere Merse-
burger Bier, Goethes rücksichtsloses Einstürmen auf seinen
Körper, bald aus Ausgelassenheit, bald aus Trübsinn, bald in
übler Anwendung neuer Abhärtungstheorien äla Rousseau. Als
Grund für die schlechte psychische und physische Verfassung,
in welcher Goethe in das neunzehnte Jahrhundert eingetreten
war, welche Schiller mit den „elenden, ihn drückenden häus-
lichen Verhältnissen“ in Verbindung brachte, ist auch Biel-
schowsky nicht abgeneigt den eben erwähnten Missstand gelten
zu lassen, und die schwere Verstimmung Goethes als einen
wesentlichen Grund für die ernsten Störungen seiner körperlichen
Funktionen anzusehen. Meiner unmassgeblichen Meinung nach
muss hier doch mit der Frage gerechnet werden, ob nicht um-
gekehrt gewisse körperliche Störungen einen wesentlichen Anteil
an den psychischen Depressionen u. s. w. Goethes gehabt
haben. In dieser Beziehung wird man in erster Reihe mit der
Gicht rechnen müssen. Hat Goethe wirklich an Arthritis
uratica gelitten? Man liest es so vielfach, dass man es ohne
weiteres glauben müsste. Indem Bodeschen Buche: „Goethes
Lebenskunst“ (2. Aufl., Berlin 1902, S. 75) heisst es z. B.:
„ Die Gicht bereitete ihm böse Stunden.“ Ich meine aber,
dass man dieser Sache etwas genauer nachgehen muss. P. J. Mö-
bius hat in seinem Goethe (II. Teil, Leipzig 1903) in dem Ab-
schnitte: Ausführungen und Belege aus Goethes Tagebüchern,
58
Briefen und Gesprächen (1. c. S. 66 ff.) vom Jahre 1767 bis zu
Goethes Tode in chronologischer Reihenfolge wertvolle Mate-
rialien auch betreffs des uns hier interessierenden Gegenstandes
beigebracht. Was die Stimmungen und das subjektive Befinden
Goethes betrifft, so ersehen wir aus dessen Aeusserung im Ge-
spräche mit Eckermann am 27. Januar 1824: „er habe in
75 Jahren keine vier Wochen eigentliches Behagen gehabt, es sei
das ewige Wälzen eines Steines“, wie es in dieser Beziehung um
Goethes Gemütsleben bestellt war, auch wenn man diesen Aus-
spruch keineswegs durchaus wörtlich nimmt. Die „Gicht“ taucht
zum erstenmal im Jahre 1808 in den angeführten literarischen
Quellen auf. Hier heisst es nämlich : Es ist noch ein gichtisches
Uebel dazu gekommen, oder vielmehr der Anteil Gicht bei dem
bisherigen hat sich auf die Beine geworfen, welches ihm grosse
Schmerzen macht und weswegen er je eher je lieber ins Bad
eilt (Brief von Riemer an Frommann vom 16. April 1808);
vier Tage später schreibt der erstere an dieselbe Adresse : Ohne
bettlägerig zu sein, fühlt Goethe denn doch alle Tage, gewöhn-
lich mittags und abends, wie man seinem Gesicht und seinen
Gebärden abmerken kann, grosse Schmerzen. Es ist auch noch
eine Gicht, die ihn an den Schienbeinen sehr inkommodierte.
Goethe war damals 59 Jahre alt. Im Jahre 1814 schreibt Goethe
selbst am 7. März an J. H. Meyer: „Ich habe mich diesen
Winter sehr wohl befunden, und um dem geringen gichtischen
Wesen, das mir manchmal durch die Glieder fuhr, zu steuern,
halte ich das Berkaische Bad (dasselbe war damals schwefel-
haltig) für hinlänglich.“ Im Jahre 1815 schreibt Goethe am
4. Juni, nachdem ihn die Aerzte „wegen der verruchten Dä-
monen, welchen es beliebt hatte, ihn auf eine empfindlich ab-
geschmackte Weise mit Fäusten zu schlagen“, nach Wiesbaden
geschickt hatten, wohin er nur widerwillig gegangen war, an
Christiane, dass sich, nachdem er drei Tage hier sei, Weilbacher
Schwefelwasser mit Milch trinke und täglich bade, die Sache gut
anlasse. Ganz anders aber lautet, was Goethe am 17. Juni an
Kirms schreibt, nämlich: „Nun brechen aber die Uebel sehr
fatal auf mich los, die gichtischen Schmerzen nehmen zu, dass
59
ich den linken Arm kaum bewegen kann, und ich soll das
Douchebad brauchen, was mir sehr zuwider ist.“ Am 17. Juli
schreibt Goethe an die Gräfin C. v. Fritsch, dass es sich mit
allem wieder ins Bessere zu schicken scheine. Im Jahre 1816
schreibt Goethe am 22. Juli an Zelter, dass er sich unsäglich
ins Wasser und diesmal ins Schwefel wasser sehne, denn weder
Gelenke noch Haut wollen mehr dem Willen gehorchen und
spielen ihr eigen unbequemes Spiel. Die Kur war, wie wir aus
Goethes Briefe an seinen Sohn vom 5. August desselben Jahres
ersehen, von vortrefflichem Erfolg begleitet. Im Jahre 1817 er-
wähnt Goethe am 25. Mai in seinem Tagebuche: „Nachts mit
Beschwerden zu Fuss herein (von Goschwitz) wegen eines Uebels
am linken Fusse.“ 26. Mai „kam Dr. Rehbein zufällig. Mittel
gegen Geschwulst des Fusses.“ 29. Mai: „Serenissimi Vorsorge
für Schnürstrümpfe. “ 30. Mai: „Geh. Hofrat Stark wegen des
Strumpfes.“ Vom 7. Juni an Fachinger (starke Natron quelle),
vom 25. Juni an Geilnauer Wasser (alkalischer Natronsäuerling)
getrunken. Am 25. September 1816 erhielt Goethe Besuch von
Charlotte Kestner, während er etwas Gicht am Arm hatte.
Aus allen diesen Mitteilungen geht hervor, dass es durchaus
nicht dagegen spricht, diese Beschwerden Goethes für gichtische
zu halten. Die allerdings knapp geschilderten Symptome, die
gegen die Krankheit angewandten Heilmethoden, die Sachver-
ständigkeit der Aerzte, welche Goethe behandelten, bieten in
dieser Beziehung nicht zu unterschätzende Garantien. Ausserdem
hatte Goethe besonders in den Jahren 1805 und 1806 — also
im Alter von 56 und 57 Jahren — an einem mit schmerzhaften
Anfällen einhergehenden Leiden laboriert, welches er selbst als
ein Nierenleiden bezeichnete (vgl. Möbius 1. c. S. 127 — 132 und
S.* 135 und 136). Es ist wohl am wahrscheinlichsten, dass es
sich bei diesen Zufällen um Nierenkoliken, welche durch Harn-
steine bedingt waren, gehandelt hat. Freilich hebt Möbius
mit Recht hervor, dass es auffällig sei, dass Goethe das Fahren
und Reiten, welches Anfälle hervorzurufen pflege, gut bekommen
sei, sowie auch, dass niemals Steine oder Bröckchen von Steinen
abgegangen seien. Diesen Möbius sehen Einwendungen lässt
60
sich folgendes entgegenhalten. Abgesehen davon, dass es sich
hier um Lücken in der Berichterstattung handeln kann, lassen
sich, wofern sich der Bericht mit den Tatsachen deckt, die feh-
lenden Schmerzen beim Reiten und Fahren immerhin dadurch
erklären, dass die Konkremente im Nierenbecken selbst fixiert
bzw. in den Nierenkelchen fest eingepackt waren. Dies würde
auch erklären, warum keine Konkremente mit dem Urin ent-
leert worden sind. Die Nierenkoliken können sehr wohl durch
die durch Steine veranlassten Verletzungen der Schleimhaut der
genannten obersten Harnwege in der Art herbeigeführt werden,
dass Blutgerinnsel, welche den Harnleiter passierten, sich in seinem
Lumen eingeklemmt haben. Blutungen haben in den Harnwegen
wohl jedenfalls stattgefunden, da H. Voss angibt, dass der Harn
bluthaltig gewesen sei. Die schmerzhaft verbundenen Anfälle wer-
den also wohl per exclusionem nicht wohl anders zu deuten sein,
als dass Goethe auch an Nierensteinen gelitten habe. Möbius
hebt hervor, es scheine, dass über Nierenschmerzen im Jahre 1818
wohl zuletzt berichtet worden ist. Im Jahre 1808 werden, so-
weit ich es übersehe, Gichtschmerzen das erste Mal erwähnt. Auf
diese Weise kann es wohl als das Wahrscheinlichste angesehen
werden, dass Goethe an den beiden gar nicht selten vergesell-
schafteten Krankheiten : nämlich an der Gicht und am Stein ge-
litten habe. Wären die Nierenschmerzen und der Blutharn durch
anderweite noch bösartigere Ursachen vermittelt worden, so hätte
der Verlauf dies erwiesen und Goethe hätte dabei nicht sein
hohes Alter erreicht. Wenn Möbius sagte: „Weintrinken ist
am häufigsten Ursache der Nierensteine. Da Goethe ein starker
Weintrinker war, stimmt die Sache“, so lässt sich über die ab-
solute Richtigkeit dieser Behauptung gewiss diskutieren. Indes
wird man ohne Zweifel den Weingenuss in einem höheren Grade
bei einem sonst zur Gicht disponierten Individuum als eine
wesentliche Gelegenheitsursache insbesondere auch bei der Patho-
genese der Gicht gelten lassen müssen. Da eine Sektion Goethes
nicht gemacht worden ist, fehlt leider ein wichtiges Moment,
durch welches volles Licht in die Sachlage hätte gebracht wer-
den können.
61
Es dürfte also wohl keinerlei ernsthaftes Bedenken er-
regen, wenn man Goethe als einen Gichtkranken bezeichnet
und, dies zugleich zugestanden, dürfte uns manche Eigenart in
dem Gemüts- und Geistesleben des grossen Mannes keineswegs
wunderbar und seltsam anmuten. Was in dieser Beziehung die
Gicht bewirken kann, sehen wir an Berzelius, auf dessen
Gemüts- und Geistesleben sie , wie oben gezeigt worden ist,
oft geradezu lähmend ein wirkte. Auch an Friedrichs des
Grossen Gicht darf hier erinnert werden. Als er im Jahre
1744 die Kur in Pyrmont brauchte, war die Ansicht der Aerzte
(s. Mamlock 1. c. S. 9) folgende: „Die Medici eignen dem
Könige ein temperamentum cholerico-melancholicum zu, sollen
bei demselben an Leib und Gemüt allerlei affectus hypochon-
driaci angetroffen sein.“ Hiervon dürfte nach analogen Er-
fahrungen immerhin auch bei Friedrich dem Grossen ein gut
Teil auf die Rechnung der Gicht zu setzen sein. Ein geistreicher
französischer Feuilletonist Henri de Parville (Causeries scien-
tifiques etc. Vingt deuxieme Annee. Paris 1884, S. 233) bezeich-
net die gichtischen Individuen als „hommes acides“. Ohne uns
in ausführlichere Darlegung in dieser Richtung einzulassen,
dürfen wir in dieser Bezeichnung doch soviel erkennen, dass
Parville die Gichtkranken als eine mit besonderen Eigentüm-
lichkeiten ausgestattete Menschenkategorie angesehen wissen will.
Es ist wohl selbstverständlich, dass die in den Säften solcher
Individuen kreisende Materia peccans der Gicht auch die Er-
nährung des Gehirns beeinflusst und seinen Tätigkeitsäusserungen
einen besonderen Stempel aufdrückt. Die gichtische Noxe ver-
mag teils reizend, teils lähmend das Gemüt und die geistige
Leistung der betreffenden Individuen zu beeinflussen.
Es liegt nicht in der Absicht des Verfassers, die Liste der
hervorragenden Menschen, welche der Gicht verfallen gewesen
sind, an dieser Stelle zu vervollständigen. Ihre Zahl ist jeden-
falls keine geringe. Erinnert sei hier nur an Julius Cohn-
heim, Franklin, Gintrac, Harvey, Kant, Leibnitz,
Milton, Will. Pitt (Vater und Sohn) und Sydenham.
Friedrich der Grosse (vgl. Mamlock, 1. c. S. 42) war der An-
62
sicht, dass die Gicht eine Krankheit der „vornehmen Welt“ sei;
er pflegte öfter zu sagen, „das Podagra sei gern bei ihm, weil
er Fürst sei“. Das wäre ein trauriges Privilegium der Fürsten,
welches auch tatsächlich nicht existiert. Es war im 18. Jahr-
hundert eine gewisse Modesache, — wie wir aus Tissots (geh.
1729, gest. 1797) Vorrede zu seinem Büchlein: „Von den
Krankheiten vornehmer und reicher Personen an
Höfen und in grossen Städten“ (aus dem Französischen,
Frankfurt und Leipzig 1770) ersehen, — die Krankheiten der
einzelnen Stände, so z. B. der Ordensgeistlichen, der Gelehrten,
der Künstler und Handwerksleute, der Soldaten und Seeleute
u. s. w. zu beschreiben. Tissot rechnet das Podagra (1. c.
S. 57) auch zu den Krankheiten der reichen und vornehmen
Leute, weil sie sich den Ausschweifungen bei Tisch, den Ergötz-
lichkeiten der Liebe, dem übermässigen Wachen, der Untätigkeit,
allen Leidenschaften und sehr starkem Nachsinnen überlassen.
Bei dem Landmann, so schliesst Tissot diese lange Speisekarte
ätiologischer Momente des Podagra, ist dieses Uebel fast gänzlich
unbekannt. Fürwahr, es scheint nach der Aufzählung Tissots,
in welcher ja das „lange Nachsinnen“ das einzig löbliche Moment
bildet, dass die Gicht zumeist das Ergebnis eines recht lasterhaften
Lebens sei, wie es besonders bei vornehmen und reichen Personen
vorkomme, welche diesen Lastern fröhnen. Es soll hier über diese
Dinge, welche heutzutage doch im wesentlichen geklärt sind,
nicht weiter gesprochen, sondern nur auf die Frage etwas näher
eingegangen werden, ob und wie weit starke geistige Arbeit der
Gicht Vorschub leistet? Die Antworten lauten bei den ver-
schiedenen Beobachtern etwas verschieden. Scudamore (Gout
und Gravel 4. edit. London 1823, S. 70) versteht unter dem Be-
griff: „severe study“ nicht allein den Mangel an körperlicher
Uebung, die verkürzte Nachtruhe und die Unregelmässigkeit in
den Zeiten von Schlaf und Ruhe, sondern auch deren Konse-
quenzen : Schwäche des Magens und Stuhlträgheit. Indes auch
diesen Momenten räumt Scudamore nur eine Bedeutung in der
Aetiologie der Gicht ein, wofern eine Prädisposition zu derselben
vorhanden ist. In einer Fussnote erwähnt Scudamore den eng-
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lischen Staatsmann WilliamPitt (geb. 1759, gest. 1806) und dessen
Tater William Pitt den Aelteren, den Graf von Chatam,
welcher gleichfalls englischer Staatsmann war (geb. 1708, gest. 1778).
Beide Pitts litten in einer bereits schon frühen Periode ihres
Lebens an der Gicht. Der ältere Pitt war niemals ein Ver-
ehrer des Bacchus, von seinem Sohne konnte dies gerade nicht
behauptet werden, aber beide waren „ardents students“. Aus
diesem Beispiel lässt sich lediglich folgern, dass auch ohne Ex-
zesse in jungen Jahren sich Gicht entwickeln kann. Dagegen ist
ein anderes, von Scudamore angeführtes Beispiel, welches keinen
geringeren als Sydenham betrifft, von einer grossen Bedeutung
für die hier uns interessierende Frage. Sydenham hat näm-
lich selbst berichtet, dass die übermässige geistige Anstrengung,
welche er auf die Abfassung seiner Abhandlung über Gicht
verwendete, den schlimmsten Anfall von Gicht, welchen er je
gehabt hatte, herbeiführte. Das würde also nur den Einfluss
übermässiger geistiger Anstrengungen auf das Zustandekommen
von Gichtparoxysmen bedeuten. Sydenham ist aber noch einen
bedeutsamen Schritt weiter gegangen, indem er dem Satze, dass
die Gicht mehr die Keichen als die Armen heimsuche, anschei-
nend als ob er sich über sein eigenes Missgeschick trösten wolle,
hinzufügt: „plures sapientes quam fatuos!“ Nun will zwar Le-
cor che (Goutte, Paris 1884, S. 485) lediglich auch in diesen
Fällen die diätetischen Exzesse anklagen. Indessen kann man
diese doch nur als prädisponierende Momente ansehen. Viel-
leicht steckt doch in dem Satze von Sydenham etwas Wahres
und vielleicht steckt das Bindeglied weit häufiger als man denkt,
nicht sowohl im Gehirn sondern im Darm, dessen Funktion man
bei sonst verständigen, an der Gicht laborierenden Menschen in
einer schier unglaublichen Weise verwahrlost findet. Das gibt,
wie ich schon a. O. wiederholt ausgesprochen habe, wichtige
Heilanzeigen. Solche aber aufzusuchen und zu beachten ist der
Zweck, welchen niemals der Arzt aus dem Auge verlieren darf.
Die Koprostase dauernd zu beseitigen ist eine der vornehmlichsten
Aufgaben bei der Behandlung der Gicht.
Literaturverzeichnis
der bei Abfassung dieser Arbeit, abgesehen von den im Text angeführten
benutzten Quellen:
1. Aus Justus Liebigs und Friedrich Wöhlers Briefwechsel in den Jahren
1820 — 1873. Unter Mitwirkung von Frl. E. Wöhler, herausgegeben von A. W.
Hofmann. 2 Bde. Braunschweig, Vieweg & Sohn.
2. Berzelius und Liebig. Ihre Briefe von 1831 — 1845 mit erläuternden
Einschaltungen aus gleichzeitigen Briefen von Liebig und Wöhler, sowie wissen-
schaftlichen Nachweisen, herausgegeben mit Unterstützung der kgl. bayer.
Akademie der Wissenschaften von Justus Carriere. 1893. München und Leip-
zig. Verlag von J. F. Lehmann.
3. Briefwechsel zwischen J. Berzelius und F. Wöhler im Aufträge der
K. Ges. der Wissenschaften zu Göttingen, mit einem Kommentar von J. von
Braun, herausgegeben von 0. Wallach. 2 Bde. Leipzig 1901. Verlag von
Wilh. Engelmann.
4. Jacob Berzelius’ selbstbiographische Aufzeichnungen, herausgegeben
im Auftrag der K. Schwed. Akademie der Wissenschaften von H. G. Söder-
baum. Nach der wörtlichen Uebersetzung von Emilie Wöhler, bearbeitet von
Georg W. A. Kahlbaum. Leipzig. Johann Ambrosius Barth. 1903.
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